2015

Wie Marcel Koller einer toten Mannschaft wieder Leben einhauchte

Teamchef Marcel Koller hat in den vier Jahren seiner Amtszeit dem Nationalteam eine durchdachte und funktionierende Spielidee vermittelt – und somit gegenüber vielen anderen Nationalteams einen entscheidenden Vorteil. Eine Koller-Bilanz aus taktischer Sicht von Momo Akhondi.

 

Es war der 19. September 2009: Nach der dritten Niederlage in Folge zog der VfL Bochum die Reißleine und entließ seinen damaligen Trainer. Dieser hatte zuvor den Aufstieg mit dem Ruhrpott-Klub geschafft und diesen auch lange in der ersten Klasse gehalten. Kurze Zeit danach stieg Bochum in die zweite Bundesliga ab und blieb auch die vergangenen fünf Jahre dort. Die Rede ist von Marcel Koller. Danach folgten zwei lange Jahre, in denen der aktuelle Nationaltrainer keinen Verein coachte. Koller bildete sich in dieser Zeit weiter. Willi Ruttensteiner, der den Schweizer 2011 als neuen Teamchef präsentierte, holte den Schweizer nach Österreich. Damals wurden ganz andere Namen im Vorfeld kolportiert: Mirko Slomka, Thomas Tuchel oder etwa Christoph Daum. Der österreichische Boulevard forderte eine rot-weiß-rote Lösung wie zum Beispiel Andi Herzog. Marcel Koller hatte keiner auf der Liste, seine letzten Erfolge waren schon länger her.

 

Marcel Koller Oktober 2011 Gepa Pictures 

Marcel Koller bei der Präsentation im Oktober 2011 (Foto: Gepa Pictures)

 

Zu Bochumer Zeiten agierte er häufig mit einer Raute im Mittelfeld, damals schon konnte seine Mannschaft bemerkenswert viele Bälle im vorderen Drittel erobern. Schon zu Bochums Zeiten war Koller ein taktisch auffälliger Trainer, wenn auch noch mit Schwächen. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Nationalcoach konnte man ein hohes Offensivpressing sehen und damit sofort auf sich aufmerksam machen; das Spiel der Nationalmannschaft war auf Anhieb attraktiver für die Zuschauer. Doch das Team hatte auch klare Schwächen im Spiel gegen den Ball. Vor allem im Laufe der jeweiligen Matches wurden die Abstände zwischen den einzelnen Spielern immer größer: vorne ging den Spielern die Kraft aus, hinten trauten sich die Verteidiger nicht mehr raus, um die Lücken zu schließen, welche die Offensivspieler hinterlassen haben. Das lag auch zu einem großen Teil am damaligen Innenverteidiger-Pärchen Pogatetz/Prödl, die beide eine sehr konservative Auslegung ihrer Arbeit gegen den Ball haben. Dies wurde von Koller zwar angepasst, es konnte jedoch nur schwer erfolgsstabil über 90 Minuten aufrechterhalten werden. Es kam dadurch oft zu großen Lücken zwischen der offensiven Pressingreihe und der absichernden Verteidigung. Schmerzlich in Erinnerung blieb in diesem Zusammenhang die Auswärtsniederlage in Schweden, die auch gleichzeitig das Ende der WM-Träume bedeutete. In diesem Spiel konnte die Nationalmannschaft eine der besten Halbzeiten in diesem Jahrhundert spielen, brach nach der Pause jedoch auseinander und bekam folgerichtig nach einem langen Ball auf Ibrahimovic das Gegentor zum 1:2.

 

Marcel Koller Schild Gepa Pictures 

Teamchef Marcel Koller: Daran mussten sich viele österr. Medien erst gewöhnen (Foto: Gepa Pictures)

 

Koller: Ein Trainer mit einem Plan
Was man jedoch jederzeit sehen konnte, war der Plan von Marcel Koller. Schon 2011 reiste er jede Woche zu den verschiedenen Legionären und zeigte ihnen auf DVD und an der Tafel, was er mit dem Team vorhat. Zum hohen Pressing gesellten sich dabei über die Jahre: eine konsequente Aufbaustaffelung, die jedoch in der Besetzung flexibel sein sollte, kluge Lockmittel im Spielaufbau sowie eine extreme Offensivfluidität im Angriff mit einem Fokus auf Nadelspielern, welche sich zwischen den Linien des Gegners aufhalten sollen. Abgerundet wird das Ganze durch ein konsequentes Gegenpressing, das bereits im eigenen Ballbesitz dementsprechend vorbereitet wird.

 

Es ist ein sehr heikles Unterfangen, in den kurzen Lehrgängen, die dem Teamchef zur Verfügung stehen, eine Mannschaft im taktischen Bereich auf Vordermann zu bringen, wenn dieser Bereich die Jahre davor außerordentlich brach lag. Doch Koller meisterte diese Mammut-Aufgabe mit Bravour.

 


Das offensive Pressing war ab der ersten Partie gegen die Ukraine da, viel wichtiger wurde jedoch der Spielaufbau. Dieser fehlte unter Kollers Vorgänger Constantini nämlich fast zur Gänze. Die Spieler waren auf individuelle Aktionen angewiesen und hier galt es für Koller an den Schrauben zu drehen. Es wurde ein geduldiger Spielaufbau in der ersten Aufbaureihe vorangetrieben, jedoch mit dem Ziel, danach schnell in die Spitze zu kommen.

 

Dabei war nach kurzer Anlaufphase im Spiel der Österreicher, fast konstant eine Dreierabwehrkette im Spielaufbau zu beobachten. Um diese herzustellen, kippen abwechselnd einer der beiden Sechser, Alaba oder Baumgartlinger, in die Mitte ab. Meist lassen sie sich zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, selten kippt Alaba nach halblinks aus, womit er fast die Rolle übernimmt, die er auch beim FC Bayern innehat. In der Dreierkette hat dann der zentrale Spieler die größten Möglichkeiten, um einen Laserpass durch die gegnerische Formation zu spielen. Alaba füllt diese Rolle gut aus, Baumgartlinger tut sich dabei eher schwer.

 

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Bild 1 – Alaba kippt zentral zwischen die Innenverteidiger ...

 

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Bild 2 – ... und spielt gleich einen Laserpass durch das Zentrum

 

Baumgartlinger nutzt seine Positionierung dann meist, um mit mehreren kurzen Pässen einen seiner beiden Partner – vor allem Aleksandar Dragovic – hinten in Szene zu setzen, damit die Mannschaft dann durch diesen nach vorne stoßen kann.

 

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Bild 3 – Baumgartlinger spielt nicht die Laserpässe sondern spielt lieber Dragovic frei.

 

Der Nachteil dieser Variante ist, dass man sich auf einen der beiden Halbräume fokussieren muss. Wenn der Gegner diesen rechtzeitig zustellen kann, ist man dadurch gezwungen, auf den Flügel auszuweichen. Doch auch hier konnte Koller in der laufenden EM-Qualifikation aus einer potenziellen Schwäche eine Waffe des Teams machen. Arnautovic auf links ist nämlich sehr gut darin, sich mit Tempo vom Gegenspieler zu lösen und dem Ballführenden entgegen zu kommen. Dabei wird ihm der Ball meist in den Fuß gespielt, was normalerweise ein wenig die Dynamik aus dem Spiel nimmt. Arnautovic lässt den Ball jedoch prallen und ermöglicht dem ÖFB-Team dadurch eine kluge Spielverlagerung auf die andere Seite zu spielen. Der Gegner ist durch Arnautovic' Laufweg fast schon gezwungen, auf seine Seite zu verschieben; während sie jedoch noch auf dem Weg zurück sind, hat Österreich den Ball schon verlagert. Der Ball ist immer schneller als der Gegenspieler.

 

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Bild 4 – Arnautovic lockt die Blauen an, Dragovic verlagert anschließend.

 

Nun könnte man in der Zukunft natürlich versuchen, mehr über den zentralen Spieler in der Aufbau-Dreierkette zu kommen: Man hat dafür auch mit Martin Hinteregger einen überragenden Spieler, der diese Rolle ausgezeichnet ausfüllen kann. Bei zentralem Abkippen landet dieser jedoch oft auf der halblinken Seite. Nicht zuletzt im deutschen Klassiker zwischen Bayern und dem BVB konnte man erkennen, dass auf den Halbpositionen die Möglichkeiten zum scharfen Zuspiel nach vorne begrenzt sind. Nicht umsonst tauschte zum Beispiel Pep Guardiola nach 15 Minuten die Positionen von Javi Martinez und Jerome Boateng und ermöglichte Letzterem dadurch die zentrale Rolle und die Laserpässe.

 


Die Rolle von David Alaba im Nationalteam hat immer wieder ein wenig variiert. Während die Gegner am Anfang noch oft versuchten, die Österreicher früh im Aufbau zu stören, greifen nur mehr wenige Teams gegen den ÖFB auf hohes Pressing zurück. Zu gut kann die Abwehr solche Situationen lösen; wenn es darauf ankommt greift man auch gerne auf den hohen Ball zurück und ist exzellent darin, den Kampf um die zweiten Bälle zu gewinnen, indem zuvor der Raum vor der Gegnerischen Abwehr überladen wird.

 

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Bild 5 – Österreich nahezu unschlagbar im Kampf um den zweiten Ball.

 

Dadurch wurden im Laufe von Kollers Amtszeit auch Alabas Kippbewegungen sukzessive weniger, beziehungsweise wurden diese nicht mehr so oft für den direkten Weg in die Spitze benutzt. Inzwischen wird Alaba nämlich immer mehr Richtung Spitze geschoben und landet nicht selten auf der gleichen Höhe wie Zlatko Junuzovic, womit die Ausrichtung in Ballbesitz oft zu einem 4-1-4-1 wird.

 

Teamchef Koller meint zudem auch, dass er Alaba in der hohen Position sieht, wenngleich sich unser Starspieler dort schwer tut. Der Gegner fokussiert sich nämlich oft auf ihn, die Spielräume die er kriegt sind sehr klein und erfordern hohe technische Qualität, welche nicht unbedingt zu den ganz großen Stärken des Weltfußballer-Kandidaten gehören. Deshalb ist es nicht selten so, dass Medien im Nachhinein davon sprechen, dass David Alaba auf dieser vorgeschobenen Position nicht seine besten Partien zeigen konnte. Dabei geht er nach wie vor durch Leader-Qualitäten und exzellenter Elfmeterquote voran.

 

Neben den klugen Spielverlagerungen nach Anlockversuchen der Flügelspieler Arnautovic/Harnik, entwickelte sich unter Koller auch eine außergewöhnlich Offensivfluidität bei Angriffen. Fluidität bezieht sich dabei, auf die wechselnden Positionen, welche die Spieler im Angriff einnehmen. Vor allem Junuzovic pendelt sowohl in der Horizontalen (von links nach rechts) als auch in der Vertikalen (vor und zurück) und tauscht dabei immer wieder mit anderen Spielern die Position.

 

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Bild 6 – Junuzovic pendelt vertikal.

 

Das Credo von Marcel Koller ist es, bestimmte Zonen besetzt zu haben. Diese müssen unter allen Umständen besetzt sein. Sei es die defensive Aufbaureihe, die breit stehenden Außen oder der Zwischenlinienraum.

 

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Bild 7 – Zwischenlinienraum und Breite müssen besetzt sein.

 

Wer dies tut, scheint nicht so wichtig zu sein. Manchmal landet Harnik als einziger Breitengeber auf rechts, manchmal baut Fuchs mit den Innenverteidigern das Spiel auf. Zur Anfangszeit von Teamchef Koller war diese Fluidität vielleicht noch zu viel des Guten, doch gut Ding braucht Weile und so wurden die variantenreichen Angriffe des ÖFB immer mehr zu einer Waffe.

 


Bliebe da noch Kollers Markenzeichen: das Pressing. Wie eingangs erwähnt, war es schon das Merkmal seiner ehemaligen Mannschaften, das Spielgerät tief in der gegnerischen Hälfte zu erobern und dadurch einen kurzen Weg Richtung Tor zu haben. Dieses Pressing hat er in seiner Amtszeit in Österreich immer weiter verfeinert. War es zu Beginn noch teilweise wild und ohne Absicherung, so konnte man im Auswärtsspiel gegen die Russen eine wahre Demonstration abliefern. Der russische Ex-Trainer Capello hat vor und nach dem Spiel vor dem Pressing der Österreicher gewarnt, doch seine Mannschaft war unfähig, sich dagegen etwas einfallen zu lassen. Die Österreicher formieren sich dabei üblicherweise im 4-4-2, in dem der Zehner Junuzovic auf die Höhe des Mittelstürmers rückt. Dahinter lauert einer der beiden Sechser – meist ist es Alaba –, um aus der Position zu rücken und hinter den Stürmern Druck zu machen.

 

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Bild 8 – Rot-weiß-rotes Pressing.

 

Das Ganze geht dann mehr Richtung 4-1-3-2:

 

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Bild 9 – Alaba rückt auf.

 

Die Österreicher konnten dabei oft Druck machen, ohne den Gegner anlaufen zu müssen; die Formation alleine war dabei genug, um die Russen zur Verzweiflung zu bringen, man spricht dementsprechend von „Staffelungsdruck".

 

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Bild 10 – Staffelung bringt Russland zur Verzweiflung.

 

Ohne Not wurden viele Bälle nach mehreren Querpässen zwischen den Innenverteidigern nach vorne gebolzt. Selten traute sich der Gegner auf den Flügel, doch dort konnte das Nationalteam schnell ihre Pressingfalle zuschnappen lassen und den Gegenspieler von der Außenwelt abschneiden. Inzwischen sind die Bewegungen im Pressing ökonomischer, die Kompaktheit der gesamten Mannschaft höher und dementsprechend die Abstände kleiner.

 

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Bild 11 – Österreich kann pressen, ohne Kompaktheit bei hohen Bällen aufgeben zu müssen; ein wichtiger Schritt in der Entwicklung.

 

Auch wenn den Stürmern noch im Laufe der Partie oft die Puste ausgeht und es den Offensivkräften dann oft schwer fällt, die Breite zu sichern, so ist das Pressing in der EM-Quali im Vergleich zur WM-Qualifikation qualitativ um einiges hochwertiger geworden.

 

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Bild 12 – schwächelndes Pressing in der 1. Reihe.

 


Auch wenn man hierfür, erstmal einen Schritt zurückmachen musste, wie im Testspiel gegen Island und auch im Heimspiel gegen Schweden zu erkennen war. Doch auch dies zeichnet Teamchef Koller aus: wenn etwas nicht auf Anhieb klappt, nimmt man einen Schritt zurück, um dann zwei nach vorne zu machen.

 

Fast schon „von allein" kam dabei das extrem starke Gegenpressing der Nationalmannschaft zustande. Je besser die Abstimmungen in Ballbesitz und die Kompaktheit gegen den Ball wurden, desto besser wurde das Gegenpressing. Dabei agiert Österreich sehr zugrifforientiert im Umschalten auf die Defensive. Die Spieler haben als primäres Ziel, dem Gegner alle Passmöglichkeiten zu nehmen; also zu jedem möglichen Pass des Gegners Zugriff zu haben oder diesen gleich abfangen zu können. Durch die Konsequenz von Marcel Kollers Team mit und ohne Ball, ist auch das Gegenpressing auf einem beeindruckenden Niveau und erlaubt es der Mannschaft auch gegen fast jedes Team der Welt sein Spiel durchzuziehen.

 

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Bild 13 – Das Gegenpressing fängt alles auf.

 

Auch Brasilien und Neymar hatten dementsprechend ihre Schwierigkeiten, nach Ballgewinn etwas Produktives zu erzeugen. Österreich braucht seine Spielanlage dadurch kaum an den Gegner anpassen, egal ob dieser Liechtenstein oder Brasilien heißt.

 

FAZIT:
Als Marcel Koller Österreich 2011 übernahm, war es keineswegs vorherzusehen, dass diese Beziehung derart fruchten wird. Koller war seit zwei Jahren arbeitslos, Österreich nach der Ära Constantini taktisch komplett am Boden. Es ist auch ein Verdienst von ÖFB-Sportdirektor Willi Ruttensteiner, dass er in Teamchef Koller erkannt hat, was sonst keiner erkennen wollte. Koller hatte von Tag eins an einen Plan, auch wenn er diesen am Weg in die Top 10 noch ein, zwei Mal anpassen musste. Der Schweizer hatte sich von Beginn an viel vorgenommen, das konnte man bei jedem Interview hören. Er reiste seinen Legionären nach, um jedem einzeln zu erklären wohin der Weg hinführt. Die Spieler sehnten sich ihrerseits nach einem taktisch versierten Teamchef und waren dementsprechend empfänglich.

 

Dadurch wurde es auch möglich, die Stimmung im Team wieder herzustellen und einen totgeglaubten Patienten zum Leben zu erwecken. Koller brachte sein eigenes Pressing auf ein neues Niveau, schraubte am Ballbesitzspiel seiner Mannschaft und verpasste ihr dadurch eine Identität und Spielidee, welche sie gegen jede Nationalmannschaft der Welt durchziehen kann und die womöglich bald ihresgleichen in Europa sucht. Wer sich mit Nationalmannschaften beschäftigt wird wissen, dass das taktisch/strategische Niveau nicht sehr hoch ist, trotz teilweise hoher individueller Qualität. Diesbezüglich können wenige Teams eine derart durchdachte und funktionierende Spielidee vorweisen wie die Österreicher. Und das ist ein Verdienst von Marcel Koller.

 

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