Matthias Sammer: 'Der österreichische Fußball sollte Willi Ruttensteiner ein Denkmal setzen'

Welche Position sollte David Alaba spielen? Warum spielt Österreichs Nationalmannschaft plötzlich stark? Und welches Potential hat ein kleines Land wie Österreich im Fußball? Bayern Münchens Sportdirektor Matthias Sammer schildert im Gespräch mit 90minute

 


90minuten.at: Sind Bayern-Siege zu selbstverständlich geworden?

Matthias Sammer: Vielleicht, aber das ist nicht das Entscheidende. Im Sport geht es immer um Leistung. Und Leistung hat eine Historie. Es hat einen Grund, warum man Leistung bringt. Willi Ruttensteiner, ein guter Bekannter von mir, den ich zu meiner DFB-Zeit bei allen Lehrgängen getroffen habe, ist fleißig und engagiert. Man sieht welche Organisationsformen im österreichischen Fußball entstanden sind, auch im Nachwuchsbereich. Leistung ist koordinier- und steuerbar. Man gewinnt damit nicht automatisch ein Finale, aber die Tendenz ist ablesbar. Es ist kein Zufall, was in Österreich passiert. Du kannst dich auch in kleinen Ländern wie Österreich gut organisieren und in großen Ländern bei Vereinen wie Bayern München auch. Aber es werden Parolen in die Welt gesetzt. Und keiner setzt sich damit auseinander, warum etwas möglich wurde. Keiner setzt sich mit dem Thema Leistung auseinander. Keiner setzt sich damit auseinander, warum die Verlierergeneration von 2012 Weltmeister wurde. Das war kein Zufall, sondern Leistung in der täglichen Arbeit, Organisation und Steuerung.


Warum konnte das österreichische Nationalteam aus Ihrer Sicht so einen großen Entwicklungsschritt machen?
Man muss nur schauen, wie sich der deutsche Fußball Ende der Neunzigerjahre im Nachwuchsbereich organisiert hat. Die Spieler brauchen eine Basis. Die hat auch der österreichische Fußball geschaffen. Gute Spieler mit einem guten Trainer in einem guten System werden mehr Spiele gewinnen als sie verlieren. Es braucht schon Topspieler. Denn mit schlechten Spielern werden sie auch nichts erreichen.


Spielt Geld Fußball?
Frankreich hat im Fußball mehr Geld als Österreich, liegt aber in der Länderwertung dahinter. Geld ist ein wesentlicher Faktor, um Infrastruktur zu schaffen, es geht aber auch auf anderen Wegen. Der Idealismus ist oft mehr wert. Viel Geld bedeutet nicht automatisch mehr Erfolg, es muss schon auch gut eingesetzt werden. Sprich: Wir müssen beispielsweise schlauer sein als die Engländer, weil finanziell können wir nicht mithalten.


Der FC Bayern hatte heuer in den DFB-Nachwuchsauswahlen nur zwei Spieler...
...ja, da haben wir Nachholbedarf. Wir haben da auch Wege eingeleitet, um uns besser zu strukturieren und zu organisieren. Ich freue mich nicht darüber, aber ich würde es auch nicht als großes Problem bezeichnen.


In Österreich wurde die Nachwuchsarbeit reformiert. Denken Sie, dass das Potential in Österreich erschöpft ist oder was ist noch möglich?
Wie viele Einwohner hat Österreich?


Knapp über 8 Millionen.
Island hat 300.000, oder? Und die haben super Basketballer, super Handballer und super Fußballer. Und wenn Sie jetzt das Verhältnis von 300.000 zu 8.000.000 hernehmen, dann gibt es auch noch Entwicklungspotential im österreichischen Fußball. Aber im Grunde kann das kein Mensch erklären, warum das in Island gelingt. Ein kleines Land ist vielleicht manchmal leichter zu organisieren als ein großes Land wie Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern. Die Österreicher fahren zur Europameisterschaft, sie haben viele Legionäre in Deutschland und zwei Trainer in der Bundesliga. Das kann ja alles kein Zufall sein. Da ist strukturell über Jahre hinweg Pionierarbeit geleistet worden. Es wird zentral viel gesteuert im Nachwuchsbereich. Wenn die Österreicher nicht das Gefühl haben, mit dem Erreichen der Europameisterschaft, das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben, dann wird diese Entwicklung weitergehen.


Willi Ruttensteiner wurde in Österreich oft kritisiert. Wie würden Sie seinen Beitrag zum Erfolg einschätzen?
Kritisiert zu werden ist ein Kompliment. Wenn du Kulturen komplett veränderst und dabei alle Halleluja schreien würden, dann wären ja schon andere auf den Gedanken gekommen, dass eine Veränderung gut wäre. Er musste ein Streiter für die Sache sein. Er musste sich gegen viele Widerstände durchsetzen. Das konnte ja nur zu zwei Dingen führen: Entweder, dass er den österreichischen Fußball schlechter gemacht hätte – ob das möglich war, weiß ich nicht – oder aber besser. Es war ja klar, dass keiner sagt: Willi, auf das haben wir gewartet. Man sagte: die Spieler wollen sich nicht durchsetzen. Und: ach Strukturen verändern, ich weiß nicht. Ich habe Willi Ruttensteiner wirklich schätzen gelernt. Und ich glaube, dass ihm der österreichische Fußball langsam ein Denkmal setzen sollte, anstatt ihn noch großartig zu kritisieren.


War es gut, dass ein Schweizer Entwicklungshelfer gespielt hat?
Marcel Koller ist ein toller Trainer. Ich schätze ihn persönlich sehr. Aber Marcel Koller kann am Ende nur auf Strukturen im nationalen Verband zurückgreifen, um sie punktuell zu beeinflussen. Er baut auf der Arbeit von Willi Ruttensteiner auf. Koller war eine perfekte Ergänzung.

 



Stimmt es, dass Sie dem Willi Ruttensteiner damals den Marcel Koller empfohlen haben?
Nein. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.


Hat Sie Ruttensteiner nach Ihrem Rat gefragt?
Ich will es nicht ausschließen, weil wir uns zum damaligen Zeitpunkt wirklich viel ausgetauscht haben. Und er ist wirklich extrem fleißig und bemüht. Er hat mir damals schon seine Konzeption gezeigt. Aber ich weiß nicht, ob wir jemals über dieses Thema gesprochen haben.


Ralf Rangnick meinte einmal, dass er selten eine Liga wie die österreichische gesehen habe, die soviel brachliegendes Potential habe. Muss sich Österreich als kleines Land mit dem Status Quo begnügen oder ist da mehr drinnen?
Schwer zu sagen, weil ich die österreichische Liga zu wenig kenne, um im Detail darüber zu reden. Man kann dort einen guten Weg gehen als Spieler, um dann mit 20 in eine bessere Liga zu gehen. Für junge Spieler ist es gut, um sich zu stabilisieren. Ich glaube nicht, dass es gut ist, zu jung zu gehen.


Hätte David Alaba bei Bayern noch eine Chance gehabt, wenn er im Alter von 20 oder 22 Jahren aus Österreich nach München gekommen wäre?
Alaba ist ein Jahrhunderttalent und nicht zu vergleichen. Der ist wirklich Außergewöhnlich.


Das heißt: auch mit 20 hätte Alaba aus der österreichischen Bundesliga kommend bei Bayern noch durchstarten können?
Naja, es ist immer auch individuell zu betrachten. Alaba konnte diesen Schritt früh gehen. Er war auch zwischendurch in Hoffenheim, wo man nicht wusste, ob er den Schritt zu Bayern München schafft. Wir reden hier vom Außergewöhnlichen. Die Frage ist, ob es richtig ist, zu früh ins Ausland zu gehen, wenn du nicht Alaba bist.


Zlatko Junuzovic ging spät ins Ausland. Schafft er es noch zu einem Topklub?
Abwarten.


Hat Bayern noch Interesse?
Alter ist nie ein Problem, die Qualität ist entscheidend.


Sie sagten vorhin: Österreich hat viele Top-Spieler, die den Erfolg ausmachen. Nennen Sie ein, zwei Namen, an denen sich dieses österreichische Nachwuchssystem manifestiert.
Ich habe für die Frage Verständnis, aber ich werde hier nicht mit Namen hantieren.


Aber gibt es Spieler, die Ihnen auffallen?
Ich kann verstehen, dass Sie nachhaken. Aber lassen Sie uns lieber über andere Dinge sprechen. Österreichs Stärke ist die mannschaftliche Geschlossenheit.


An David Alaba gibt es immer wieder Interesse anderer Vereine. Wie lange kann und will sich der FC Bayern den teuersten Verteidiger der Welt leisten?
Er hat Vertrag. Und wir wissen was wir aneinander haben. Dem Thema gegenüber sind wir sehr gelassen.

 

Im Nationalteam spielt Alaba im Mittelfeld, bei den Bayern als linker Verteidiger. Ein Problem?
Alaba wird seine feste Rolle finden. Und ich finde es kein Problem, dass er in der österreichischen Mannschaft im Mittelfeld ein Stabilitätsfaktor ist und bei uns eine Etage weiter hinten. Außerdem: Ohne Alabas Flexibilität hätten wir nicht die ersten neun Spiele gewonnen. Wir hatten viele Ausfälle. Stellen Sie sich einmal vor, der könnte keinen Innenverteidiger spielen. Das wäre für uns eine Katastrophe gewesen. Der Ribery will den Alaba nur als linken Verteidiger. Wenn Alaba dann sagt, er will im Mittelfeld spielen, dann schnappt er sich ihn. Alaba wurde mit dieser Flexibilität zweimal Österreichs Fußballer des Jahres. Alaba hat diesen Wunsch im Mittelfeld zu speieln. Aber er bringt auch den Gedanken mit: Was ist gut für die Mannschaft? Und er stellt sich in den Dienst der Mannschaft.

>>> Peter Pilz: ‚Man spielt Fußball mit Bällen und nicht mit Dosen'

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