2016

Kollers kluge Umstellungen

Durch kluge Umstellungen ließ Marcel Koller das österreichische Nationalteam gegen EM-Halbfinalisten Wales mehr als gut aussehen. Eine Taktik-Analyse von Momo Akhondi.

 

Prinzipiell ist das ÖFB-Team nach der schwachen Europameisterschaft souverän in die Mission Russland 2018 gestartet. Auswärts konnte man gegen Georgien bestehen und holte sich einen verdienten Sieg. Doch die Art und Weise gab zu Bedenken, Koller schien plötzlich nicht mehr so souverän, wie er zuvor war. Mit Wales empfing das Nationalteam einen Gegner, der bei der EURO bis ins Halbfinale vorstoßen konnte, und das nicht unverdient. Zu Recht wurden die Waliser im Vorfeld der Partie zum Favoriten gekürt. Es war spannend zu sehen, ob und wie Koller seine Mannschaft gegen den starken Gegner einstellen würde.

 

Die größte Überraschung gab gab es ca. 1 Stunde vor Anpfiff: Markus Suttner flog aus der Startelf, für den Ingolstodt-Legionär startete Kevin Wimmer, Innenverteidiger bei Tottenham. Seinen letzten Einsatz als Linksverteidiger hatte er in der 2. deutschen Bundesliga unter Peter Stöger. Koller hatte diese Idee laut eigener Aussage bereits nach dem Spiel in Georgien und betonte nach dem Spiel, dass Wimmer bei LASK Linz schon als Außenverteidiger ausgebildet wurde.

 

Auf der Gegenseite schickte Chris Coleman seine Waliser im gewohnten 5-3-2 aufs Feld. Eine große Besonderheit bei den Walisern war die Rolle der Außenverteidiger gegen den Ball. Taylor und Gunter orientierten sich in der Defensive extrem an ihrem direkten Gegenspieler: Marcel Sabitzer bzw. Marko Arnautovic.

 

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Bild 1 – Arnautovic kommt entgegen, doch Gunter verfolgt ihn auf Schritt und Tritt.


Durch diese sehr mannorientierte Spielweise entstand aus dem 5-3-2 der Waliser bemerkenswert oft ein 4-4-2.

 

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Bild 2 – vorrückender AV bildet 4-4-2

 

In diesem situativen 4-4-2 rückten die Achter gemeinsam auf den ballführenden Gegenspieler und standen damit in einem Zick-Zack-Muster gegen den Ball. Es rückten immer der erste und der dritte Spieler heraus, der zweite und vierte Spieler sicherten ab. Diese Defensivstaffelungen erinnerten ein wenig an Atletico Madrid unter Simeone.

 

Die Waliser hatten trotz Manndeckung am Flügel sehr klare Strukturen im Spiel gegen den Ball. Ballgewinne waren zumeist in den defensiven Halbräumen geplant, die Österreicher konnten diese Fallen im Pressing jedoch geschickt umspielen.

 

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Bild 3 – Klein spielt Junuzovic in der Falle an, doch dieser lässt prallen und öffnet Raum.

 

Durch schnelles Prallen lassen war es möglich, diese geleiteten Pressingfallen zu umgehen. Die Österreicher waren jedoch nicht in der Lage, die dadurch geöffneten Räume konsequent und mutig zu bespielen. Hier ist für die Mannschaft von Marcel Koller noch Steigerungspotenzial vorhanden.

 

Doch die Hauptschwachstelle der Waliser hatte Marcel Koller in seiner Gegneranalyse gut erkannt und seine Mannschaft geschickt darauf eingestellt.

 

: eine Fünferkette besitzt eine ganz andere Dynamik als eine Viererkette und birgt einige Schwächen in den Schnittstellen zwischen Außen- und Innenverteidigung. Selten spielt eine Mannschaft wirklich stur mit einer Dreierkette oder einer Fünferkette. Auch die Aussage, dass jede Dreierkette gegen den Ball zu einer Fünferkette wird, kann man so nicht stehen lassen. Viel eher handelt es sich in den meisten Fällen um eine pendelnde Viererkette: also wird zu jeder Zeit entweder einer Dreierkette ein Spieler „hinzugefügt“ oder einer Fünferkette ein Spieler „abgezogen“. Das kann zum Beispiel sein, weil ein Außenspieler die Fünferkette verlässt um seinen Gegenspieler zu verfolgen, oder weil der ballferne Außenspieler sich fallen lässt, um in der Dreierkette eine Spielverlagerung oder eine Flanke an den zweiten Pfosten zu verteidigen. In beiden Fällen entsteht eine Viererkette, die hin und her „pendelt“.

 

Deshalb entstehen auch ganz andere Dynamiken als bei der bekannten Viererkette. Die Zuordnung kann nicht ohne weiteres von der Viererkette übernommen werden und führt zu neuen Situationen, die anders gelöst werden müssen. Bei den meisten Teams entsteht dadurch ein Dreierblock, bestehend aus den drei Innenverteidigern, welcher mehr oder weniger unabhängig von den beiden Außenspielern betrachtet wird.

 

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Bild 4 – Walisische Fünferkette kann unterteilt werden in Innenverteidiger (Kasten) und Außenspieler (Verbindungslinien).

 


Und hier kommt Marcel Koller ins Spiel. Der österreichische Teamchef hatte vor dem Spiel gegen Wales gerade einmal zwei Trainingstage, um sein Team auf den Gegner vorzubereiten. Diese nutzte der Schweizer bemerkenswert gut und konnte mit zwei entscheidenden Maßnahmen die Waliser neutralisieren. Einerseits ließ er seine Außenstürmer Arnautovic und Sabitzer die Schwachstellen der Waliser attackieren. Andererseits nahm er mit Joe Allen den wichtigsten Spieler des Gegners aus dem Spiel. Zu den Maßnahmen gegen Allen später mehr, doch widmen wir uns zunächst der überraschenden Strategie der Österreicher mit dem Ball.

 

Bisher agierten die Außenspieler im ÖFB-Team oft sehr flügellastig. Diese waren damit beauftragt, dem Spiel Breite zu verleihen, das führte zuweilen dazu, dass die Außenverteidiger dahinter sehr tief und sehr passiv positioniert waren und das Offensivspiel der Österreicher lahmlegten.

 

Gegen Wales überraschte Koller aber und ließ Arnautovic und Sabitzer nicht nur ein Stück höher agieren, sondern gab ihnen den Auftrag, diagonal in die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenverteidigung zu laufen.

 

Von 90minuten.at angesprochen auf die veränderte Rolle der beiden Außenspieler, reagierte Koller auf der Pressekonferenz nach dem Spiel zunächst rückfragend: „Was meinen Sie damit?“, fragte er und wollte anscheinend das Wissen zunächst einmal „abprüfen“. Nachdem Koller die höhere Positionierung der Außenspieler zwischen den Schnittstellen des Gegners nähergebracht wurde, hellte des Teamchefs Gesicht langsam auf, sein Stirnrunzeln wurde weniger: „Ja, wir haben den Gegner beobachtet und haben gedacht wir können ihn damit ein wenig ärgern. Wir haben das die letzten beiden Tage auch so trainiert.“

 

Um diesen Plan auch umsetzen zu können, mussten die Österreicher an zwei entscheidenden Schrauben drehen.

 

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Bild 5 – Österreich überlädt die letzte Linie des Gegners

 

Schon nach 18 Minuten fiel auf, dass die Österreicher im Raum zwischen den Linien des Gegners viel weniger präsent waren als üblich. Stattdessen suchten bis zu fünf Spieler die Abseitsgrenze und damit die letzte Linie des Gegners. „Was machen die denn da? Wollen die jetzt nur mehr hohe Bälle schlagen?“, war dabei der eine oder andere Gedanke.

 


Doch schnell war klar, dass genau das der Plan der Österreicher an diesem Abend ist. Arnautovic und Sabitzer sprinten immer wieder diagonal zwischen die Außenverteidiger (Taylor links, Gunter rechts) und ihren Nebenmännern – Davies links, Chester rechts. Damit versuchten sie hinter die gegnerische Abwehr zu kommen. Dabei wurden klassische „Lupfer“ aus dem zentralen Mittelfeld eingesetzt.

 

Damit diese Ausrichtung funktionieren konnte, musste Koller aber auch die Rolle der beiden Außenverteidiger anpassen.

 

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Bild 6 – Ungewohntes Bild, Klein und Wimmer im Spielaufbau weit aufgerückt

 

Normalerweise sind die Außenverteidiger im Spiel der Österreicher sehr tief und meist passiv, wie bereits erwähnt waren bislang die Außenstürmer dafür verantwortlich die Breite zu besetzen. Da Arnautovic und Sabitzer gegen Wales jedoch andere Rollen hatten, mussten die Außenverteidiger höhere Positionen einnehmen, um einen kontinuierlichen Spielaufbau des ÖFB-Teams aufrecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang muss man sowohl Florian Klein als auch Kevin Wimmer lobend erwähnen. Dadurch, dass die Österreicher die Fünferkette der Waliser nach hinten drängen konnten, öffneten sich immer wieder Räume für Klein, welcher der Stuttgart-Legionär zu nutzen wusste. Außerdem konnte er den walisischen Rechtsverteidiger Taylor vereinzelt aus seiner Position ziehen und den Raum in seinem Rücken öffnen.

 

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Bild 7 – Klein zieht Taylor raus und stößt dann selber (!) in die Lücke

 

Auf der anderen Seite zeigte auch Wimmer ein starkes Debüt als Linksverteidiger und konnte sich dadurch für weitere Aufgaben empfehlen. Wimmer war in der Entstehungen von vielen Angriffen zunächst ein wenig zurückhaltend, konnte dann aber durch nachstoßende Läufe nach vorne immer wieder Arnautovic entlasten und die Zuordnung der Waliser durcheinanderbringen. Auffällig war dabei, wie klug Wimmer seine Läufe wählte, egal ob er er Arnautovic hinter- oder vorderlief, ob er sich weiter außen oder weiter im Zentrum anbot, er schien dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein. Seine Läufe kamen zwar hin und wieder verzögert, doch sie waren stets gefährlich.

 

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Bild 8 – Wimmer kommt aus der Tiefe und geht konsequent nach vorne, Arnautovic geht den entgegengesetzten Weg und macht dadurch Platz.

 

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Bild 9 – Wimmer besetzt die Breite und ermöglich Arnautovic dadurch eine zentralere Position.

 

Auch durch den Gegentreffer von Joe Allen ließen sich die Österreicher nicht von ihrem Plan abbringen und suchten konsequent die durchstartenden Arnautovic und Sabitzer. Und fast postwendend nach dem Rückstand gelingt durch diese einstudierte Variante der Ausgleich.

 

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Bild 10 – ist das die Szene vor dem 1:1? Sieht so aus, ist aber drei Minuten davor passiert. Man erkennt das Muster.

 

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Bild 11 – das ist die Szene vor dem Tor. Österreich überlädt mit Mann und Maus die Fünferkette des Gegners und sucht den durchstartenden Arnautovic. Ausgleich.

 


Teil zwei des Matchplans: Das Spiel gegen den Ball
In der Pressekonferenz nach dem Spiel sprach Koller die Disziplin seiner Mannschaft gegen den Ball an. Die Spieler ließen sich laut dem Schweizer über 90 Minuten nicht aus ihrer Position locken, sondern verteidigten ihren Raum konsequent. In diesem Zusammenhang lobte der Teamchef David Alaba explizit, was vermuten ließ, dass der Bayern-Star in der Vergangenheit seine Position nicht gehalten hat, wie Koller es von ihm wollte.

 

Gegen Wales attackierte das Nationalteam zwar nicht unbedingt an vorderster Front und ließ die gegnerischen Verteidiger zunächst in Ruhe aufbauen, doch es war keineswegs eine passive Ausrichtung gegen den Ball. Vielmehr leitete man den Gegner bewusst auf die Flügel und damit weg vom Zentrum. Marcel Koller hatte offensichtlich einen Vereinskollegen von Marko Arnautovic als größte Gefahr im Spielaufbau ausgemacht.

 

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Bild 12 – Joe Allen im dichten Netz des österreichischen Pressings.

 

Durch kluge Nutzung von Deckungsschatten in der Defensivstaffelung, welche gegen die Waliser mehr nach einem 4-2-2-2 aussah, konnte man Joe Allen über weite Teile der Partie aus dem Spiel nehmen und den Gästen dadurch im Spielaufbau den Zahn ziehen. Durch die sehr raumorientierte Deckungsarbeit der österreichischen Mittelfeldspieler waren auch die ganzen positionellen Rotationen von Bale und Co. wirkungslos. Nur Arnautovic war vereinzelt gezwungen, seinen Gegenspieler mannorientiert zu verfolgen, wenn die Waliser versuchten, Kevin Wimmer aus der Abwehr zu locken.

 

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Bild 13 – In der Endverteidigung ist Wimmer gezwungen den Gegner zu verfolgen, Arnautovic füllt auf indem er Gunter verfolgt.

 

Dass die Idee Joe Allen aus dem Spiel zu nehmen durchaus sinnvoll war, konnte man vor dem 0:1 sehen.

 

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Bild 14 – Entstehung des 0:1

 

Allen wurde angespielt und sogleich von Janko und Junuzovic gestellt. Der Stoke-Spieler konnte sich jedoch technisch einwandfrei gegen beide durchsetzen und destabilisierte dadurch die österreichische Defensive. Davies konnte dann mit einem scharfen Zuspiel aus der Abwehr aus Bale einsetzen und leitete damit das Tor von Allen ein.

 

Aus dieser klugen Deckung von Allen konnte das Nationalteam in den ersten 45 Minuten eher selten Kapital schlagen. Man konnte Allen zwar aus dem Spiel nehmen, doch gefährlich wurde man nur nach Angriffen, die man auch selber einleiten konnte.

 

In der zweiten Halbzeit konnte das Team von Marcel Koller 20 Minuten lang den Druck erhöhen. Gleichzeitig wurde Joe Allen von den Walisern immer öfter angespielt und dadurch in unangenehme Situationen gebracht. Eine davon führte zum erneuten Ausgleich.

 

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Bild 15 – Allen anspielbar aber von gleich vier Österreichern gejagt. Es bleibt nur der offensichtliche Rückpass auf den Arnautovic schon lauert.

 

Danach war der ÖFB über die gesamte zweite Halbzeit die spielbestimmende Mannschaft und kam durch Arnautovic auch noch ein weiteres Mal entscheidend vor das gegnerische Tor. Am Ende musste man sich mit einem Punkt zufrieden geben, das Spiel war jedoch nicht wirklich ausgeglichen. Vor allem das 2:1 dürfte Teamchef Koller sehr ärgern, weil seine Mannschaft hatte an diesem Abend einen Sieg verdient gehabt.

 

Fazit
Koller konnte überraschen. Gegen einen sehr starken Gegner schaffte es der Schweizer, seiner Mannschaft mit klugen Umstellungen einen klaren Matchplan auf den Weg zu geben. Die Österreicher konnten vor allem Allen und Bale sehr gut aus dem Spiel nehmen und immer wieder gefährlich in die Schnittstellen des Gegners eindringen. Auch wenn es nicht für einen Sieg reichte: Diese Leistung muss man Marcel Koller hoch anrechnen, auf gewisse Art zeigte er es allen Kritikern. Wales-Coach Coleman meinte nach dem Spiel wohl nicht zu Unrecht: „Wer in dieser Gruppe vor Österreich landet, qualifiziert sich für die WM.“

 

Momo Akhondi Profilbild

Zum Autor: Momo Akhondi ist neben seiner Tätigkeit bei 90minuten.at auch Analyst beim deutschen Taktik-Portal Spielverlagerung.de und hat bereits mit Bundesligatrainern aus Österreich und Deutschland zusammengearbeitet.

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