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Der unbekannte Weltklassegoalie

Lew Jaschin hat seine Karriere bereits vor mehr als fünf Jahrzehnten beendet, gilt aber immer noch als einer der beste Torhüter aller Zeiten. Dietrich Schulze-Marmeling hat dem Dynamo Moskau-Star nun eine Biografie gewidmet. Von Jürgen Zacharias

Als Lew Jaschin 1963 als bislang einziger Torhüter mit dem „Ballon d‘Or“ als Fußballer des Jahres ausgezeichnet wurde, war der Ruf des russischen Goalies als Klassekeeper längst zementiert. Sein Debüt bei einem 1:1 Dynamo Moskaus gegen Stadtrivale Spartak am 2. Juli 1950 war zwar noch wenig glücklich verlaufen (Jaschin wurde die Schuld am Gegentor gegeben und für eine Reihe weiterer Fehler verantwortlich gemacht), nach einem Intermezzo als Einsergoalie der Eishockey-Mannschaft (!) seines Stammvereins machte er sich aber kurze Zeit später auch in der Fußball-Sektion unverzichtbar. Mit seinen spektakulären Paraden und seinem sensationellen Stellungsspiel war er einer erfolgreichen Dynamo-Mannschaft über Jahre ein sicherer Rückhalt. Und auch, wenn man im Westen zu der Zeit den russischen Kick nur über Freundschaftsspiele wahrnahm, galt Jaschin auch in Deutschland, Frankreich und England als bester Keeper des Kontinents. Seiner Person eilte eine ganz spezielle Aura voraus, die Angst der gegnerischen Angreifer beim Abschluss war sprichwörtlich.

 

Goldmedaille bei den Olympischen Spielen

Auch im Nationalteam legte der am 29. Oktober 1929 geborene Moskauer eine steile Karriere hin: 1954 bestritt er beim 7:0 gegen Schweden das erste von insgesamt 78 Spielen für die damals starke sowjetische Mannschaft. Bei den Weltmeisterschaften 1958 und 1966 wurde er zum besten Torwart des Turniers gewählt, 1960 gewann die Sbornaja – auch dank dem überragenden Jaschin – mit einem 2:1 im Finale gegen Jugoslawien den Europameistertitel und 1956 eroberte er mit der UdSSR die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Melbourne.

 

Abschiedsspiel vor über 100.000 Fans

Der deutsche Autor Dietrich Schulze-Marmeling zeichnet nun in „Lew Jaschin – Der Löwe von Moskau“ die Karriere des Klassekeepers nach. Von seinem Debüt bis hin zu seinem Abschiedsspiel (vor 104.000 Zuschauern!), von seinen Einsätzen in der FIFA-Weltauswahl bis zu seiner Karriere danach als Funktionär und Politiker. Schulze-Marmeling verwebt Jaschins Karrierestationen aber auch mit der Entwicklung des sowjetischen Fußballs, erklärt die Unterschiede zwischen und die Evolution der Moskauer Spitzenvereine und erzählt Interessantes zur Nationalmannschaft und deren Stars, die im kommunistischen Land offiziell freilich keine solchen sein durften. Dabei stützt er sich vielfach auf die Erinnerungen kickender Jaschin-Zeitgenossen wie Uwe Seeler und Franz Beckenbauer, vor allem aber auf Aussagen seiner Frau, die den Goalmann auch als Menschen greifbar macht und ihn wie seine Sportkameraden als ruhige, stets gut gelaunte Frohnatur beschreibt, der allerorts Respekt genoss, mit der Raucherei aber auch einem gefährlichen Laster frönte.

 

Bis zu 80 Zigaretten am Tag

Bis zu 80 Zigaretten pro Tag soll Jaschin geraucht haben und so ist es wenig verwunderlich, dass er bereits 1990 (nachdem ihm Jahre zuvor schon beide Beine amputiert worden waren) im Alter von 60 Jahren an den Folgen seiner Sucht verstarb. Schulze-Marmeling lässt auch dabei keine Details aus, besonders interessant sind aber jene Passagen des Buchs, in denen er die Bedeutung Lew Jaschins für das moderne Torwartspiel charakterisiert. Das liest sich immer informativ, bisweilen aber sogar spannend. Denn: Der Russe war damals seiner Zeit voraus, interpretierte die Torhüter-Position deutlich offensiver als seine Konkurrenten, verstand sich nicht nur als Toreverhinderer, sondern als Mitspieler und „Verteidiger zwischen den Pfosten“. Dazu kam sein extravagantes Auftreten (schwarze Dress, schwarze Hose, schwarze Stutzen), das sein Alleinstellungsmerkmal als Torhüter auf dem Platz und auf den Rängen noch verstärkte. Die Auszeichung zum „Torwart des 20. Jahrhunderts“, die ihm die FIFA zur Jahrtausendwende zusprach, hätte er aber wohl auch mit rotem Dress und grüner Hose bekommen.

 

Dietrich Schulze-Marmeling, „Lew Jaschin – Der Löwe von Moskau“, Verlag Die Werkstatt, 272 Seiten.

 

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