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Qatar 2022: Die beste und die furchtbarste WM [Kommentar]

In einem würdigen Finale kürt sich Argentinien, angeführt von Lionel Messi, zum Weltmeister. Das Turnier war sportlich aufregend, vielleicht eines der besten überhaupt – aber nur sportlich.

+ + 90minuten.at PLUS - Ein Kommentar von Georg Sander + +

 

Das Runde muss ins Eckige. 172 Mal landete der Ball im Tor, um eines mehr als 1998 in Frankreich und 2014 in Brasilien. Sportlich gehörte die Weltmeisterschaft im Wüstenstaat zu einer der aufregendsten der Geschichte, mit einem würdigen Weltmeister. Die WM hatte sportlich einiges zu bieten. Etwa den 2:1-Sieg Saudi-Arabiens über den späteren Weltmeister, die irre Gruppe E, die Deutschland wieder in der Vorrunde scheitern ließ, tragische Momente wie das japanische Elfmeterschießen im Achtelfinale, Harry Kanes Elfer oder insgesamt den alternden Cristiano Ronaldo. Glanzlichter wie den groß aufspielenden Luka Modrić und seine Mitspieler, ungeahnte Volten wie die zwei Weghorst-Goals gegen Argentinien im Viertelfinale und natürlich die Marokkaner, die hinter sich gleichsam die arabische Welt und Afrika vereinten. Und dann dieses Finale!

 

Experiment Winter-WM geglückt

Wenn sich irgendwer gefragt hat, wie sich eine WM zum Zeitpunkt, an dem sonst die letzten Spieltage in der Champions League-Gruppenphase stattfinden, sportlich sein würde, erfuhr eine positive Überraschung. Auch wenn viele um laue Sommerabende mit Fußball im Freien betrogen wurden. Während sich aber bei Großereignissen zu Saisonende sonst überspielt wirkende Kicker in engen (defensiv-)taktischen Korsette zwängen lassen, konnten diesmal wirbelnde Angriffsspiele von im Saft stehenden Stars beobachtet werden. Maßgeblich zudem: Torhüter als Aufbauspieler werden immer wichtiger, die Zentralen sind zu, weswegen Flügelspieler immer wichtiger werden. Dafür fand laut Beobachtern Pressing weniger stark statt, die bis zu sechs Auswechslungen geben den Spielen einen anderen Charakter.

 

Skurrilitäten

Wie bei jeder WM gibt es durchaus auch Skurrilitäten. An dieser Stelle sei etwa an die Vuvuzelas in Südafrika 2010 erinnert. Verwunderlich waren vor allem Schiedsrichter-Innovationen. Etwa das halbautomatische Abseits, die teils lange Zeit bei offensichtlichen Abseitsstellungen, wenn trotzdem zu Ende gespielt wurde oder natürlich die langen Nachspielzeiten.

"Den Kontrast zeigten die Szenen nach dem Titel: Die internationalen Adabeis aus Fußball, Politik, Wirtschaft und Co waren im Stadion, in Buenos Aires explodierte die Stimmung in der gesamten Bevölkerung." - Georg Sander

Beim Spiel England gegen Iran etwa wurden 10 Minuten in der ersten und 14 Minuten in der zweiten Halbzeit nachgespielt. In Ermangelung echter Fußballtradition konnten die Qataris leider nicht mit einer Plastiktröte aufwarten, sie stülpten Messi aber einen Bischt über. Und das war es auch schon wieder mit den positiven Nachrichten.

 

Kontraste

Das Finale in Lusail, im besten Fall so etwas wie die Seestadt von Doha, war genauso falsch, wie der Umstand, die WM in dem Land überhaupt stattfinden zu lassen. Den Kontrast zeigten die Szenen nach dem Titel: Die internationalen Adabeis aus Fußball, Politik, Wirtschaft und Co waren im Stadion, in Buenos Aires explodierte die Stimmung in der gesamten Bevölkerung. Und das in einem Land, das einerseits seit Jahren von Krise zu Krise taumelte, aber andererseits Fußball lebt und atmet wie kaum ein anderes. Kontrastreicher hätten die Bilder nicht sein können, da die oberen 10.000 in einem Land, das aus derer 300.000 und Heerscharen an Gastarbeitenden und hoch bezahlten Expats besteht – dort das gebeutelte Land, das in dem Moment keine Sorge, sondern nur noch pures Glück kennt.

 

Furchtbar, von Anfang bis Ende

Von der korrupten Vergabe über die Unterstützung durch Gianni Infantino über die tausenden gestorbenen Gastarbeiter, das aus dem Boden stampfen von WM-Stadien, der, siehe EU-Parlament, Bestechung über Terrorfinanzierung bis hin zu dem mit Füßen treten von Menschenrechten im Allgemeinen und speziellen, das war furchtbar. Es mag schon gut und richtig gewesen sein, auch die arabische Welt am Phänomen Fußball teilhaben zu lassen. Nach europäischen Vorstellung wäre es wohl unmöglich, ein Land zu finden, das den eigenen, teils durch Doppelmoral ausgehöhlten, ethischen Grundsätzen entspricht – Qatar war als Ausrichter vor allem eines: falsch.

 

Fußball als Spielball der Politik

Nun kann vordergründig durchgeschnauft werden. Die Frauen-WM 2023 findet in Australien und Neuseeland statt, die Herren kicken bei der EM 2024 in Deutschland, 2025 ist der Ausrichter der Frauen-Euro noch offen (Skandinavien, Frankreich, Polen und Schweiz haben sich beworben), die Herren-WM 2026 findet schließlich dann in den USA, Kanada und Mexiko statt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Länder mit ihren ebenfalls berechtigten Kritikpunkten den Fußball dermaßen für Machtpolitik missbrauchen wie Qatar, das ist in dem Ausmaß – hoffentlich und Stand heute – mehr oder weniger auszuschließen.

Fußball bzw. Sport war leider immer ein Spielball der Politik, die Korruption begleitet WM-Vergaben seit Jahrzehnten. Geld und Erfolge nehmen die Kicker und die Fans der Vereine dennoch gerne – wer zahlt, schafft an, das gilt in weiten Teilen der Gesellschaft und somit auch im Fußball. Russland übrigens hat zumindest eine Fußballhistorie und war zwar 2018 auch schon im Krieg mit der Ukraine, Putin aber noch immer gern gesehener Gast. So eklatant wie in Qatar 2022 waren die Schieflagen bei Weltmeisterschaften der Herren aber seit 1978 nicht mehr so offensichtlich.

Exklusiv: Katar 2022 - Blick hinter die Kulissen

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