Stefan Oesen: Der Tausendsassa an Rangnicks Seite
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Stefan Oesen: Der Tausendsassa an Rangnicks Seite

Die Aufgabengebiete des Salzburgers sind und waren mannigfaltig. Wie hat er es dorthin geschafft? Und was mag er an seinen Jobs eigentlich gar nicht?

In Salzburg geboren und aufgewachsen, in Kärnten in eine Fußballschule gegangen, in Wien, dem Burgenland und dem Waldviertel unterklassig gekickt.

Als aktiver Kicker war Stefan Oesen viel unterwegs. Und das ist er seither auch thematisch. Sportstudium, Videoanalyst, Reha- und Athletik-Trainer, Co-Trainer im ÖFB-Team, Abteilungsleiter für "Wissenschaft, Analyse und Entwicklung" im Verband und Co-Kommentator. Seine Aufgabengebiete in den vergangenen Jahren waren und sind mannigfaltig.

Der 40-Jährige ist ein Tausendsassa. "Karrieretechnisch wäre es sicher kein Nachteil, sich zu spezialisieren, aber das bin nicht ich", sagt der Salzburger.

Wie sich seine berufliche Laufbahn entwickelt hat, was Ralf Rangnicks Führungsstil speziell macht, was in der Ausbildung falsch läuft und warum ihm die Digitalisierung manchmal gar nicht so taugt, erklärt er im großen 90minuten-Interview.

90minuten: Wann macht es dir am meisten Spaß, ein Fußballspiel anzusehen?

Stefan Oesen: Da gibt’s drei Kategorien. Wenn ich als Analyst oder Trainer involviert bin, dann wenn wir eine gute Leistung bringen, teilweise sogar unabhängig vom Ergebnis. In der Rolle als Kommentator, wenn viel passiert, das Match unterhaltsam ist. Als Privatperson, wenn ich mir mit meinen Freunden ein Spiel anschauen kann.

Pre-Doc hatte von den Leuten her schon arge Big-Bang-Theory-Vibes.

90minuten: Gelingt es dir, wenn du dir privat ein Spiel ansiehst, einfach nur zuzuschauen, dir nicht dauernd zu denken: Mein Gott, warum besetzen die diesen Raum nicht?

Oesen: Deswegen schaue ich mit meinen Freunden, wenn es möglich ist, nur Konferenz. Es ist in mir drinnen, herausfinden zu wollen, warum was passiert. Dann habe ich einen Second Screen in der Hand, schaue Statistiken oder die Aufstellung.

90minuten: Sprechen wir über deine Spielerkarriere.

Oesen: Karriere kann man das nicht nennen, es war ein Versuch. (lacht)

90minuten: Hat dich schon zu diesem Zeitpunkt Taktik besonders interessiert?

Oesen: Ich habe immer zu verstehen versucht, warum ein Trainer was macht. Aber sehr im Bereich Individualtaktik. Ich war in Spittal in einer Fußballschule, hatte damals die Hoffnung, dass es zum Profi reicht. Danach habe ich während des Sportwissenschaft-Studiums in unteren Ligen gekickt, da ging es zunächst um Trainingssteuerung und später auch um taktische Periodisierung.

Jahrelang arbeitete Oesen für den SK Rapid
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Jahrelang arbeitete Oesen für den SK Rapid

90minuten: Hast du früher FIFA oder Pro Evo gespielt?

Oesen: Pro Evo, vor allem in den ersten beiden Semestern. Das hat nicht unbedingt zum Studienfortschritt beigetragen. Ich kannte damals einfach jeden Spieler von jeder Mannschaft. Ich glaube aber nicht, dass mir das später irgendwie geholfen hat.

90minuten: Dein Studium hast du trotzdem abgeschlossen.

Oesen: Meine Magisterarbeit habe ich im Zuge einer Studie mit einem Freund geschrieben – wir haben ein High Intensity Blocktraining in Spielformen mit Amateurfußballern gemacht haben, da ging es auch um geplantes Übertraining. Ich bin dann unverhofft auf der Uni geblieben, da gab es eine Pre-Doc-Stelle und ich bin in die Physiologie. Da habe ich unter anderem über anaerobes Training publiziert.

90minuten: Das ist schon sehr nerdig.

Oesen: Wenn ich mir selbst so zuhöre, ja. (grinst) Pre-Doc hatte von den Leuten her schon arge Big-Bang-Theory-Vibes.

90minuten: Dein erster Job war beim SK Rapid.

Oesen: Das war ein guter Einstieg, ich hatte mit Thomas Hickersberger einen tollen Mentor. Dann bin ich von Rapid weg. Am Tag meiner Hochzeit hat mich Marco Kurz angerufen, ob ich mit ihm zu Adeleide United gehen will. Ich hatte damals nichts, wollte nicht noch ein halbes Jahr arbeitslos sein, also habe ich gesagt: Ich muss nach Australien gehen.

Ich war auf keiner Hochzeit meiner Freunde, weil das immer an Matchtagen war.

90minuten: Bist du aber nicht.

Oesen: Dann kam der Anruf vom FC Liefering, also habe ich das gemacht. Eigentlich wünscht man sich ja immer exotische Destinationen, aber ich habe bei den Vorbereitungen auf Australien gemerkt, dass ich viel heimatverbundener bin, als ich gedacht hätte. Nach eineinhalb Jahren in Liefering kam der Anruf von Didi Kühbauer, ob ich zurück zu Rapid will. Wir wollten damals im Waldviertel sesshaft werden, deswegen habe ich zugesagt.

90minuten: 2020 kam dann der ÖFB.

Oesen: Mir war schnell klar, dass ich das mache. Schau dir an, wer Spielanalyst bei Vereinen ist – sehr jung, sehr nerdig, riesiger Zeitaufwand. Ich war zu dem Zeitpunkt schon Papa, und ich hatte bei Rapid genau einen Mitarbeiter, nämlich mich selbst. Ich war auf keiner Hochzeit meiner Freunde, weil das immer an Matchtagen war. Und das ÖFB-Team war ein sportlicher Aufstieg. Zudem hatte ich die Möglichkeit, die Abteilung "Wissenschaft, Analyse, Entwicklung" zu leiten.

90minuten: Wenn man sich all deine Aufgaben beim ÖFB ansieht, hat man den Eindruck, du tanzt mit deinem Hintern auf sehr vielen Hochzeiten.

Oesen: Es ist auch so. In meiner Abteilung habe ich mit Christoph Gonaus und Konstantin Breuer aber zwei überragende, zuverlässige Mitarbeiter. In Summe sind es verschiedenste Aufgaben, die alle bewältigbar sind. Es ist extrem abwechslungsreich.

Seit Jahresbeginn ist Stefan Oesen Co-Trainer des A-Teams
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Seit Jahresbeginn ist Stefan Oesen Co-Trainer des A-Teams

90minuten: Was macht dir am meisten Spaß?

Oesen: Ich bin dermaßen zufrieden mit dem, was ich mache, dass ich das gar nicht abwiegen will. Was mich nervt, sind Budget und Rechnungen machen. Macht das irgendwem Spaß?

90minuten: Du bist 40 Jahre alt, wirst noch ein paar Jahre arbeiten müssen. Aktuell bist du ein Tausendsassa. Hast du das Gefühl, dass du dich in Zukunft auf einen Bereich spezialisieren musst?

Oesen: Ich denke, es ist in meiner Position nicht schlecht, in allen Bereichen ein gewisses Wissen mitzubringen. Karrieretechnisch wäre es sicher kein Nachteil, sich zu spezialisieren, aber das bin nicht ich.

90minuten: Du bist in diesem Jahr beim A-Team vom Spielanalyst zum Co-Trainer geworden.

Oesen: Ich will in diesem Bereich routinierter und besser werden. Ich habe diese Aufgabe nur fünf Mal im Jahr, da braucht man die eine oder andere Minute, um reinzukommen. Es geht darum, die Trainingsorganisation zu automatisieren, um richtige Trainerarbeit leisten zu können – du sollst ja nicht nur Schiri, Hütchenaufsteller und Organisator sein, sondern inhaltlich coachen. Dafür braucht es Routine.

Rangnick hat einen ganz speziellen Führungsstil.

90minuten: Gibt es eine Rollenverteilung zwischen Lars Kornetka, Onur Cinel und dir im Co-Trainerteam?

Oesen: Lars ist für das Spiel gegen den Ball zuständig, Onur für das Spiel mit dem Ball und bei mir sind es die Standardsituationen. Das passiert aber nicht isoliert voneinander, jeder bringt Ideen ein, das ist ein Gemeinschaftsprojekt, wir sind ein Team.

90minuten: Du arbeitest seit dem Zeitpunkt, an dem Ralf Rangnick zum ÖFB gekommen ist, sehr eng mit ihm zusammen. Ihr habt ein gutes Verhältnis, oder?

Oesen: Ich kannte ihn davor persönlich überhaupt nicht. Ich hatte den Vorteil, im Verband auch vor Ort zu sein, die anderen Co-Trainer sind ja nicht im Büro, somit war ich seine Schnittstelle in den ÖFB. Es hat ab dem ersten Lehrgang gut funktioniert. Er hat einen ganz speziellen Führungsstil.

90minuten: Welchen?

Oesen: Er setzt Initiative voraus. Du kennst das Ziel, also überleg dir was, auch wenn es nicht in deinem Bereich ist. Wenn Ralf meint, es gibt etwas, was dem österreichischen Fußball in seiner Gesamtheit weiterhilft, dann bringt er sich ein. Genau das erwartet er auch von seinen Mitarbeitern. Ich schätze dieses große Vertrauen von Peter Schöttel und ihm, auch in anderen Bereichen out of the box denken zu dürfen.

Vertrautheit - Oesen und Rangnick
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Vertrautheit - Oesen und Rangnick

90minuten: Wenn man sich ansieht, was sich in den vergangenen Jahren in Richtung Digitalisierung und Analyse getan hat, hast du das Gefühl, genau in der richtigen Zeit zu leben?

Oesen: Wenn ich mir "Wunderbare Jahre" anschaue, eine Kindheit ohne Handy, wie ich sie noch hatte... Oft denke ich mir – besonders im Urlaub – wie schon wäre es, kein Handy zu haben. Wenn ich mal in Pension gehe, habe ich ein Klapphandy, wo ich nur angerufen werden kann, sonst gar nichts. Das klingt komisch, wenn ich das in meinem Bereich sage, aber privat ist mir das viel zu viel.

90minuten: Wie viel hat der ÖFB im Bereich Analyse aufgeholt?

Oesen: Was Manpower betrifft, sind wir in Österreich den Nationen, die wir schlagen wollen, unterlegen. Es gibt immer wieder den Vorwurf, dass unser Bertreuerteam zu groß ist. Schau dir mal an, wie groß das Betreuerteam des deutschen U21-Teams für die Europameisterschaft ist. Aber wir haben durch Rangnick extrem professionalisiert, in allen Bereichen. Auch im Bereich Talentförderung hat sich viel getan.

90minuten: Trägt das schon Früchte oder dauert das noch drei, vier Jahre?

Oesen: Wir arbeiten in den LAZs mit 13-Jährigen, versuchen da etwas umzustellen, da sind drei, vier Jahre sehr optimistisch. Es wird eine Zeit dauern. Trotzdem schaffen wir es, in den Nachwuchsnationalteams gute Leistungen zu bringen.

Johan Cruyff hat schon gesagt: Es debütieren immer Spieler, nie Mannschaften.

90minuten: Warum?

Oesen: Es ist eine österreichische Stärke, Mannschaften in die Performance zu bringen. In der individuellen Ausbildung kann das eine Schwäche sein, aber wir schaffen es, dass Mannschaften funktionieren. Nur durch die Spielerqualität hat sich Martin Scherb mit seiner U19 nicht für die EM qualifiziert.

90minuten: Schön, wenn die Mannschaften im Nachwuchs funktionieren, aber im letzten Schritt, also im A-Team, braucht es dann ja ein, zwei Spieler mit individueller Qualität.

Oesen: Ich bin bei dir. Johan Cruyff hat schon gesagt: Es debütieren immer Spieler, nie Mannschaften. Das wollen wir in den Akademien ganz stark ins Licht rücken. Dass die U18 Meister wird, ist schön und gut, aber es geht darum, dass zwei, drei richtig gute Spieler rauskommen. Wir haben aktuell schon Spieler, die Spiele alleine entscheiden können. Wir schaffen es, durch unsere Spielidee diese Spieler in die Positionen zu bringen, in denen sie ihre Stärken haben. Wir bringen den Baumi oft in den Raum, in dem er gut ist. Wir bringen den Sabi oft in die Position, in der er gut ist. Wenn du einen Spieler in einer 1-gegen-1-Situation isolieren willst, braucht du einen Spieler, der das lösen kann.

90minuten: Andererseits spielt die U18, die Meister wird, in der Youth League, wo sich Spieler individuell besser entwickeln können. Oder sie sammeln bei der U19-EM Turniererfahrung, die später mal wertvoll ist.

Oesen: Man kann das nie getrennt voneinander betrachten. Individuelle Stärke hilft natürlich dem Mannschaftserfolg. Die U18 ist das falsche Beispiel, irgendwann musst du lernen, als Mannschaft zu funktionieren. Aber wenn es darum geht, in der U14 am Freitag im Abschlusstraining nicht mehr zu viel zu machen, um am Samstag frisch zu sein. Dann gibt es eine Gegnervorbereitung, wo es um das gemeinsame Anlaufen geht, da sind wir zu früh dran. Das ist verlorene Trainingszeit, da wird nicht auf individuelle Stärken geschaut. Es muss im ureigensten Interesse jedes Vereins sein, darauf zu schauen. Ausbildungsliga zu sein ist eine Auszeichnung, keine Bürde! Rapid hat davon profitiert, Max Wöber um 7 Millionen Euro zu verkaufen.

Die Talenteförderung im Blick
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Die Talenteförderung im Blick

90minuten: Wahrscheinlich muss sich der U15-Trainer von Rapid dann trotzdem rechtfertigen, wenn er in der ÖFB-Jugendliga Zehnter wird, obwohl er vielleicht den nächsten Max Wöber drinnen hat und ihn individuell fördert.

Oesen: Wenn er Individualförderung gut macht, wird er eh nicht Zehnter. Es ist kein Entweder/Oder. Das eine funktioniert mit dem anderen gemeinsam.

90minuten: Du bist seit Sommer 2024 bei Canal+ als Co-Kommentator tätig. Wie geht’s dir damit?

Oesen: Ich hatte keine Erwartungen, war beim ersten Mal extrem nervös, hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt. Es hat mir aber vom ersten Moment an extrem Spaß gemacht. Ich analysiere die besten Mannschaften aus der Champions League intensiv, mache eigentlich permanent eine Weltstands-Analyse, das erweitert meinen Horizont, das ist positiv für meine Arbeit im ÖFB.

90minuten: Dir gelingt es, komplexe Zusammenhänge gut verständlich rüberzubringen. Musst du oft den Impuls unterdrücken, zu sehr abzunerden?

Oesen: Als Co-Kommentator hast du zum Glück die Zeit, kurz darüber nachzudenken, ob du das jetzt in zwei Sätzen rüberbringen kannst. Da muss ich oft Sachen streichen.

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