Stockerau vs. Tottenham: "Einige haben gedacht, wir heißen Sparkasse"
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Stockerau vs. Tottenham: "Einige haben gedacht, wir heißen Sparkasse"

Nach dem überraschenden Cupsieg traf der Zweitligist SV Sparkasse Stockerau im Sommer 1991 auf Tottenham - und hätte im ungleichen Duell fast für eine Sensation gesorgt.

Wir schreiben den 21. August 1991 und befinden uns im Ernst-Happel-Stadion. Es ist ein Mittwochabend, auf dem Platz sammelt sich die Mannschaft von Tottenham Hotspur mit vielen großen Namen, allen voran Gary Lineker.

Die Ränge sind für ein Qualifikationsspiel im Europapokal der Pokalsieger mit 15.500 Fans eher spärlich gefüllt, rund 1.000 davon aus England. Eigentlich wäre es keine allzu ungewöhnliche Szene, wenn der Gegner aus Österreich nicht SV Stockerau hieße.

Rapid hatte "Hos'n voll", Stockerau nicht

Möglich gemacht wurde das Sensationsduell durch den Cupsieg der Niederösterreicher drei Monate zuvor: Sie hatten den SK Rapid im Finale zuerst an die Wand gespielt und am Ende 2:1 besiegt. Der grün-weiße Trainer Hans Krankl konstatierte später: "Fast unsere ganze Mannschaft hat in die Hos'n gemacht." Ein historischer Erfolg für einen Zweitligisten, der Auftritt im Europacup war dafür quasi die Belohnung.

Schon Mitte Juli wurde die Begegnung ausgelost, die Vereinsverantwortlichen reisten neben Vertretern von Wacker Innsbruck, Sturm Graz und der Wiener Austria nach Genf. Trainer Willy Kreuz war im Anschluss vom Gegner begeistert und wählte ein ähnliches Sprachbild wie Krankl: "Das Glück ist uns treu geblieben. So einen Gegner haben wir uns gewünscht. Wir werden Österreichs Fußball so teuer wie möglich verkaufen und auch an der White Harte Lane die Hosen nicht voll haben."

Gary Lineker im Luftduell mit Josef Mazura - Herzlichen Dank an den SV Stockerau für die Bereitstellung des Bildmaterials.

Viel Geld im Spiel

Logischer Austragungsort war das Praterstadion (heute: Ernst-Happel-Stadion) in Wien, trotzdem wurde um Details gefeilscht. Mit Kosten von rund 750.000 Schilling (heute ca. 120.000 Euro) rechnete Stockerau-Manager Roland Seidl - eigentlich zu viel für seinen Geschmack, andererseits war die Austragung in der Hauptstadt so gut wie alternativlos.

Seidl wählte daraufhin einen ungewöhnlichen Weg: Die Vermarktung wurde für 1,4 Millionen (heute ca. 230.000 Euro) an eine Linzer Agentur verkauft, die unter anderem eine Beatles-Revival-Band als Vorprogramm organisierte.

Erst ab dem 15.001 verkauften Ticket durfte sich Stockerau wieder über 20 Prozent der Einnahmen freuen, vermied so aber zumindest Risiko. Obendrauf gab es zudem eine ordentliche Summe für die TV-Rechte, zwei Spiele finanzierten fast das ganze Saisonbudget der Niederösterreicher.

Tickets gab es um 240 Schilling - heute wären das rund 40 Euro
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Tickets gab es um 240 Schilling - heute wären das rund 40 Euro

Vorbereitung im Urlaub

Um sich bestmöglich auf den Gegner vorzubereiten, reisten Trainer Willy Kreuz und Manager Seidl mehrmals zur Beobachtung nach England. Kurz vor dem großen Spiel leistete sich Stockerau noch eine Blamage im Cup: In der zweiten Runde war gegen den Landesligisten Rohrbach Schluss.

Viel Zeit zum Nachdenken gab es nicht, drei Tage vor dem Duell mit Tottenham wurde die Mannschaft im Wiener Hotel Scandic Crown zusammengezogen - um das möglich zu machen, mussten mehrere Spieler Urlaub von ihren Brotberufen nehmen.

"Am Vormittag haben wir noch ein kurzes Anschwitzen gemacht, eine Hösche - insgesamt waren es vielleicht 40 bis 45 Minuten Training. Dann haben wir gemeinsam gegessen und waren auf den Zimmern, um ein bisschen zu schlafen", erzählt Kapitän Michael Keller im Gespräch mit 90minuten.

Keine Blamage

Genutzt hat es am Ende nicht, auch wenn Stockerau den besseren Anfang für sich hatte. In der achten Minute setzte Spielmacher Marek Ostrowski seinen polnischen Landsmann Grzegorz Waliczek in Szene, dessen Schuss das kurze Eck aus halbrechter Position nur knapp verpasste. Wenig später war der Abend für Ostrowski auch schon wieder vorbei, das "Herzstück" des Cupsiegers musste verletzt vom Platz - ein weiterer Tiefschlag gegen die sowieso bereits verhaltenen Ambitionen.

Der Führungstreffer fiel dann aber für die Engländer: Lineker, der sich von seinem Manndecker gelöst hatte, legte einen hohen Ball im Strafraum per Kopf auf Gordon Durie ab, der Schotte stocherte ihn im Anschluss am Keeper vorbei ins Tor. Tottenham hatte das Spiel im Griff, machte Stockerau aber gelegentlich die Tür auf: Die Eckenbilanz lautete 8:4 für den österreichischen Vertreter.

Trat mit Cut zum Elfmeter an: Kapitän Michael Keller
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Trat mit Cut zum Elfmeter an: Kapitän Michael Keller

An den Rand eines Remis brachten sich die "Spurs" fast selbst: Gary Mabbutt stellte seinem Gegenspieler im Strafraum das Bein, der Schiedsrichter entschied zu Recht auf Elfmeter. Verteidiger und Kapitän Michael Keller nahm sieben oder acht Schritte Anlauf und stand am Ende weit außerhalb des Strafraums. Er trat den Ball mit gesenktem Kopf in die rechte Ecke, in die sich auch schon Tottenham-Torwart Thorstvedt bewegt hatte. Der Nationalkeeper Norwegens parierte ohne Probleme, die große Chance auf ein Erfolgserlebnis war dahin.

"Am liebsten wäre ich unter dem Rasen mit dem Radl heimgefahren", sagt der Elfmeterschütze heute dazu. "Vielleicht waren ein paar Leute auf mich angefressen, aber so richtig aufgeregt hat sich niemand. Ich habe ja auch nicht z'fleiß verschossen."

Heute kann Keller über die Szene lachen: "Ich kann erzählen, dass ich im Europacup einen Elfmeter gegen Tottenham geschossen habe. Ich muss ja keinem sagen, dass ich ihn nicht reingehaut habe."

Auch das Fazit zum 0:1 im Hinspiel fällt positiv aus: "Leider Gottes haben wir das verhaut. Mit einem 1:1 hätte alles natürlich noch besser ausgeschaut. Aber wir haben uns gut verkauft und dagegengehalten."

Viel los in London

14 Tage später traf sich die Stockerauer Mannschaft um sieben Uhr früh am Flughafen Schwechat für den Abflug in Richtung London. Man wollte früh vor Ort seit, um Zeit für Sightseeing zu ermöglichen, genächtigt wurde im Fünf-Sterne-Hotel. Die Devise für Trainer Kreuz lautete: "Wir wollen ehrenvoll ausscheiden". An mehr war auch gar nicht zu denken, denn "wenn ich sage, dass wir gewinnen können, glauben alle, dass ich deppert geworden bin."

Trainer Willi Kreuz gibt Anweisungen
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Trainer Willi Kreuz gibt Anweisungen

Gespielt wurde in der altehrwürdigen, damals rund 90 Jahre alten White Hart Lane, die 2017 abgerissen wurde. Rund 50 Fans aus Österreich waren mitgereist, ihnen standen 28.000 Supporter der "Spurs" gegenüber. Vom Sportlichen war Tottenham zur damaligen Zeit durch Nebenschauplätze abgelenkt: Zwischen Hin- und Rückspiel gegen Stockerau leistete sich Stürmer Paul Walsh eine Handgreiflichkeit mit Teammanager Ray Clemence und fügte dem legendären Ex-Keeper eine Verletzung im Gesicht zu.

Als Konsequenz wurde er mit einem Stadionverbot belegt und auf die Transferliste gesetzt. Außerdem wurde Rechtsverteidiger Terry Fenwick, der trotzdem in beiden Spielen auf dem Platz stand, alkoholisiert am Steuer seines Fahrzeugs erwischt und später verurteilt.

Tiger von der White Hart Lane

Nach einem verhaltenen Auftritt in Wien rechnete man in London mit einem Tottenham-Sturmlauf auf das Stockerauer Tor - vor eigenem Publikum werde man sich als klarer Favorit ja nicht mit einem knappen Sieg gegen einen österreichischen Zweitligisten zufriedengeben.

Einlauf der Mannschaften in die White Hart Lane
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Einlauf der Mannschaften in die White Hart Lane

Tatsächlich mussten die Heimfans dann aber bis zur 42. Minute auf den Führungstreffer warten. Kurz vor der Pause verteidigte Stockerau einen Eckball zu inkonsequent, Verteidiger Gary Mabbutt versuchte einen Distanzschuss von außerhalb des Strafraums und hatte Erfolg.

Weitere Gegentreffer verhinderte Torwart Peter Zajicek, der sich mit einer starken Leistung den Spitznamen "Tiger von der White Hart Lane" erarbeitete. Somit endete auch das zweite Aufeinandertreffen 0:1 für die Londoner. Vor allem im Rückspiel war dann aber doch ein Klassenunterschied ersichtlich. "Wir haben mit einer Fünferkette und einem Stürmer gespielt, also in einem 5-4-1. Das war reines Verteidigen, sie haben uns schon eingeschnürt. Wir haben es vielleicht fünfmal über die Mittelauflage geschafft", erinnert sich Michael Keller.

Aufstellung vor dem Rückspiel in London
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Aufstellung vor dem Rückspiel in London

"So richtig ernst genommen haben sie uns nicht, glaube ich. Sie waren sich nicht einmal sicher, wer genau wir sind. Einige haben gedacht, wir heißen 'Sparkasse' und nicht 'Stockerau'. Sie waren aber solche Profis, dass sie uns trotzdem keine Chance gelassen haben."


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