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Viel Stress, viele Verletzungen: Welche Probleme bringt die WM im Winter? [Reportage]

Die Austragung der Weltmeisterschaft 2022 im Winter bringt Probleme mit sich. Wie groß diese wirklich sind, lässt sich noch nicht genau sagen. 90minuten.at versucht sich trotzdem an einer Einordnung.

+ + 90minuten.at PLUS - Eine Reportage von Daniel Sauer + +

 

Ganze fünf Jahre nach der Vergabe an das Gastgeberland Katar entschied sich die FIFA im März 2015 für eine Ansetzung der Weltmeisterschaft 2022 im Winter: "Unter dem Vorsitz von FIFA-Präsident Blatter hat das FIFA-Exekutivkomitee heute seine erste Sitzung des Jahres abgehalten. Es wurde beschlossen, die 22. Ausgabe des wichtigsten FIFA-Wettbewerbs im November/Dezember auszutragen – mit dem Finale am 18. Dezember 2022, dem Nationalfeiertag Katars."

Dass im selben Statement auch auf ein Arbeiterschutzprogramm und den "Genuss eines nachhaltigen Fürsorgestandards" für alle Arbeitnehmer im Land hingewiesen wird, wirkt nicht erst aus heutiger Sicht zynisch. Temperaturen von bis zu 50 Grad im Sommer hätten eine Austragung der Weltmeisterschaft im Sommer praktisch unmöglich gemacht. Eigens entwickelte Kühlsysteme sollen die Stadien kühlen, auch das zieht berechtigte Kritik nach sich. 

Somit muss also die Notlösung im Winter herhalten. Daraus ergeben sich Fragen: Sind die Spieler durch die frühe Ansetzung in besserer körperlicher Verfassung, als bei den letzten Großereignissen? Welche Auswirkungen hat der veränderte Terminkalender auf die verbleibende Saison nach der WM? Und – dieser Punkt wurde vielen Fans durch Einzelschicksale besonders vor Augen geführt – verpassen mehr Spieler verletzt die Weltmeisterschaft, als zuvor? Welche Folgen – positiv wie negativ – hat die Ansetzung der Weltmeisterschaft mitten in der europäischen Fußballsaison?

 

Viel zu viele Spiele

Das erste Problem, das sich mit Blick auf die Weltmeisterschaft aufdrängt, ist der Terminkalender. Dicht genug wäre er ja eigentlich schon gewesen, wie von allen Seiten regelmäßig angemerkt wird und kurz gesagt wird es in den nächsten Monaten nicht besser. Zwar spielen die Fußballer der fünf größten europäischen Ligen zwischen Anfang September und Ende Dezember in der Saison 2022/23 grundsätzlich weniger Spiele als im Vorjahr, das Programm im Vorfeld der Weltmeisterschaft war dafür noch enger gestrickt als zuvor.

Naturgemäß haben vor allem die Trainer der englischen Premier League eine Meinung zum dichten Programm, Diskussionen über die Spielansetzungen werden dort seit Jahren geführt. Neun Tage nach dem WM-Finale soll es in der englischen Liga weitergehen, die Spiele rund um den "Boxing Day" - im Prinzip zwischen Weihnachten und Silvester - haben viel Tradition und werden dementsprechend vermarktet. In Frankreich geht es am 28. Dezember weiter, in Spanien drei Tage später. In Italien und Deutschland bekommen die Profis ein bisschen mehr Zeit, mit Testspielen und Trainingslagern wird aber auch dort ein intensives Programm gefahren. 

Virgil van Dijk, Verteidiger für Liverpool und die Niederlande, deutete bereits an, nach der WM kurz aussetzen zu wollen und Pep Guardiola - Trainer von Manchester City - erklärte, wenn nötig mit der Akademie-Mannschaft antreten zu wollen. Ganz genau dürfte also noch niemand wissen, wie der Stand der Dinge nach dem Turnier aussehen wird. Liverpool hält im Übrigen zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft ein Trainingslager in Dubai ab, damit Spieler nach einem frühen Ausscheiden schnell zum Verein zurückkehren können.

 

Verpassen mehr Spieler die WM als normalerweise?

Die größte - sportliche - Kontroverse im Vorfeld der Weltmeisterschaft war die um die Ausfälle wichtiger Leistungsträger. Um die Angelegenheit übersichtlicher zu gestalten, geht es an dieser Stelle in erster Linie um Spieler der europäischen Nationalmannschaften. Das soll aber nicht heißen, dass anderen Teams nicht auch wichtige Spieler abhandengekommen sind. Bei Argentinien wäre da zum Beispiel Paolo Dybala zu nennen, inwiefern Sadio Mané dem Senegal zur Verfügung stehen wird, ist noch offen. 

In den letzten Wochen wurde jede verletzungsbedingte Auswechslung eines Nationalspielers zu einer Hiobsbotschaft hochgeschrieben, in den meisten Fällen gab es schlussendlich Entwarnung. Ein Beigeschmack bleibt aber jedenfalls, vor allem bei den Topspielern - die oft auch mehr Spielminuten in den Beinen haben - gibt es viele Ausfälle.

Bei der Weltmeisterschaft 2018 waren einige der größten Namen, die nicht zur Verfügung standen, beispielsweise Serge Gnabry, Lars Stindl (beide Deutschland), Adam Lallana (England), Laurent Koscielny und Dimitry Payet (beide Frankreich).

Mit Christopher Nkunku verliert die Weltmeisterschaft 2022 wenige Tage vor Turnierbeginn einen weiteren guten Spieler: Der 25-Jährige zog sich im Training mit der französischen Nationalmannschaft eine Verstauchung im Knie zu.

 

Eine Begleiterscheinung der suboptimalen Umstände ist, dass einige Nationalteams Spieler einberufen haben, die ohne oder mit nur sehr begrenzter Spielpraxis zum Nationalteam stoßen. Belgiens Torjäger Romelu Lukaku absolvierte sein letztes Pflichtspiel am 29. Oktober, auch davor hatte er schon mit Verletzungen zu kämpfen. Der Schweizer Keeper Yann Sommer stand zuletzt am 18. Oktober auf dem Platz, die serbischen Stürmer Dušan Vlahović und Aleksandar Mitrović haben seit Ende Oktober mit Verletzungen zu kämpfen, der Waliser Joe Allen fällt seit 16. September aus. 

In Fällen wie diesen kommuniziert der betroffene Verband in der Regel mit dem Verein, die Interessenslagen aller Parteien dürften in der aktuellen Situation aber nicht immer gänzlich gleich ausschauen. Angesprochen darauf, ob er seine Spieler für die WM schonen würde, antwortete Guardiola: "Das werden wir sicher nicht tun. Mich hat niemand angerufen und es ist auch nicht notwendig mich anzurufen. Ich würde ihnen [Anm.: dem englischen Verband] raten, mich nicht anzurufen". 

Gleich zwei seiner Spieler - Kyle Walker und Kalvin Phillips - reisen mit der englischen Auswahl nach Katar, obwohl sie keine Kandidaten für die ersten Spiele oder volle 90 Minuten sind. Bei anderen Weltmeisterschaften hätte es vor dem Turnier Gelegenheiten gegeben, Spieler langsam wieder an alte Stärke heranzuführen. 2010, 2014 und 2018 lagen jeweils vier bis fünf Wochen zwischen dem letzten nationalen Ligaspiel in Europa und dem Start der WM, die für Trainingslager genutzt wurden.

 

Das Sportmedium 'The Athletic' hat sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt und mit einem Experten herumgerechnet: Demnach waren zum Zeitpunkt der Berechnung 39 Premier League Spieler verletzt, im Vergleich mit den Verletztenstatistiken der letzten Jahre zum Saisonende - sprich im Sommer und damit zum Zeitpunkt einer herkömmlichen WM - sticht diese Zahl nicht besonders heraus. 2018/19 wären demnach beispielsweise 36 Premier League Spieler Wackelkandidaten für eine Weltmeisterschaft gewesen, nach der Saison 2021/22 40. Das würde darauf hindeuten, dass das Problem mit den Verletzungen zumindest nicht viel größer ist, als in der Vergangenheit.

Robin Thorpe, ein Sportwissenschaftler, der für Manchester United tätig war und derzeit mit Red Bull zusammenarbeitet, erklärte 'The Athletic': "Ich denke, dass wir nach der Weltmeisterschaft mehr wissen sollten – derzeit können wir uns einfach nicht sicher sein, ob das Narrativ um die vermehrten Verletzungen realistisch ist". 

 

Erhötes Risiko

Die Premier League, oder allgemeiner die englischen Ligen, als Beispiel heranzuziehen, macht Sinn. Nach aktuellem Stand reisen 163 Spieler von englischen Vereinen nach Katar, das ist der Abstand höchste Wert bei dieser WM. Ein Umstand, der auch einen routinierten Trainer wie Jürgen Klopp beschäftigt - er hat mit seinen Spielern eine Vereinbarung getroffen: "Wir haben sieben Spieler bei der WM. Sie sind sehr wichtig für uns. Wir haben bei internationalen Spielen klare Regeln: die Jungs müssen mir sofort Bescheid sagen, wenn sie nach einem Spiel Probleme haben".

Und auch von der "FIFPro", der Vereinigung von Spielervertretungen, rechnet im Vorfeld der WM mit einem erhöhten Risiko von Muskelverletzungen und mentaler Belastung. Ein umfassender Bericht beschreibt die körperlichen Herausforderungen. Anhand von Beispielen werden die Probleme verdeutlicht: ein durchschnittlicher WM-Kader hat derzeit schon insgesamt 24.000 Minuten absolviert, einige Teams noch deutlich mehr. Der Spitzenreiter in dieser Kategorie ist Portugal mit 30.986 Minuten. FIFPro findet dazu vor allem kritische Worte: "Die Spieler werden erneut dazu gezwungen, über ihre Grenzen hinauszugehen. Wie immer werden sie das durchstehen und einzigartige Momente erzeugen. Die aktuelle Situation darf sich in den nächsten Jahren aber nicht wiederholen". 

 

Fittere Spieler durch frühere WM?

Ein möglicher positiver Aspekt einer Weltmeisterschaft mitten in der Saison wäre, dass Spieler zumindest theoretisch fitter sein sollten. Über den Verlauf der Spielzeit nimmt die körperliche und psychische Erschöpfung mehr und mehr zu, die negativen Effekte sollten sich derzeit noch in Grenzen halten. Ob sich das dann auch auf den Platz überträgt und es damit einen anderen "WM-Fußball" zu sehen gibt, wird sich erst zeigen. 

Dagegen spricht, dass auch die Vorbereitung auf das Großereignis anders abläuft als üblich. Nach Ende des Ligabetriebs haben die Spieler meistens Zeit für einen Kurzurlaub, im Trainingslager wird dann nicht nur im taktischen Bereich oder am Teambuilding gearbeitet, sondern auch die Fitness wird wieder aufgebaut. 

 

Fazit

Vor der Weltmeisterschaft wirkt es so, als würden sich die negativen Auswirkungen der Ausnahme-WM derzeit noch in Grenzen halten. Viele große Namen werden das Turnier verpassen, mit Blick auf die Zahlen ist die Situation aber zumindest noch nicht schlimmer als sonst. Diese Zahlen werden zumindest leicht dadurch verfälscht, dass Teams dieses Mal angeschlagene Spieler im Kader behalten, die man sonst eher daheim gelassen hätte. Ein genaueres Bild wird sich erst mit Turnierverlauf ergeben. Was schon jetzt feststeht ist, dass der Umstieg zurück in den Alltag bei den Vereinen eigentlich gar nicht reibungslos verlaufen kann. Egal ob die Spieler Pausen bekommen, oder nicht - die Belastung war schon im Vorfeld groß, ein Ausscheiden bei der WM hinterlässt dazu auch noch Spuren im psychischen Bereich. 

Exklusiv: Katar 2022 - Blick hinter die Kulissen

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