Heute vor 50 Jahren: Als Happel und Feyenoord Geschichte schrieben
Der enigmatische Wiener führte Rotterdam 1970 zum Sieg im Europapokal der Meister und damit zum ersten internationalen Titel eines niederländischen Klubs überhaupt. Einiges spricht dafür, dass Happel dabei jenen „Totalen Fußball“ vorweggenommen hat, der später Ajax Amsterdam zugeschrieben wurde.
Der ließ uns selbst nachdenken. Happel war immer überzeugt. Von sich selbst und von seinen Spielern.
So hohe Qualität haben wir danach vielleicht nie mehr gezeigt.
+ + 90minuten.at Exklusiv + + Von Michael Robausch
Europäische Bewerbe waren Ende der 1960er Jahre kompakte Veranstaltungen, internationaler Klub-Fußball ein seltener Leckerbissen für Spieler und Zuschauer gleichermaßen. Man fieberte solchen Anlässen entgegen – doch alles konnte auch ganz schnell wieder vorbei sein. Europacup glich einem Tanz auf dem Seil: Das Wort Gruppenphase sollte erst erfunden werden. Mit Gegnern beschäftigte man sich eher kursorisch, auch aufgrund der Umstände. Beobachtungen vor Ort gingen ins Geld, manchmal erwiesen sie sich als kompliziert. Noch leuchtete das grelle Licht omnipräsenter Medienkonglomerate nicht gnadenlos jeden Winkel aus. Die Informationslage war lückenhaft, man kannte nicht jedes Detail und vielleicht wollte man auch nicht alles wissen.
Vier Runden mit Hin- und Rückspiel hatte Feyenoord Rotterdam im Europacup der Meister 1969/70 zu absolvieren, ehe die Rot-Weißen auch im Finale gegen Celtic Glasgow mit 2:1 n.V. die Oberhand behielten. In dreien davon tappten sie hinsichtlich der Widersacher so ziemlich im Dunkeln, die da hießen: KR Reykjavik (Gesamt 16:2), das nicht mehr existierende Vorwärts Berlin (2:1) und Legia Warschau (2:0). Allein für den AC Milan, der sich schon in Runde 2 vor dem Arbeiterklub aus dem Süden Rotterdams aufbaute, galt das nicht. Doch dazu später.
Happels Dreifaltigkeit
Als Ernst Happel 1969 zu Feyenoord stieß, konnte er bereits auf eine niederländische Ära zurückblicken. Über sieben Jahre hinweg hatte er das kleine ADO Den Haag geprägt. Happel über Happel: „Meine große Stärke ist die Taktik. Und der zweite Punkt: Ich kann die Spieler anpacken.“ 1965 in der Ehrendivision nur von den Großmächten Ajax und eben Feyenoord überflügelt, verhalf ein famoser dritter Platz ADO zur Premiere auf internationalem Parkett, genauer im Intertoto-Pokal. Happel führte ADO auch vier Mal ins nationale Cupfinale. Nach drei Niederlagen gelang im vierten Anlauf endlich der erste Triumph: das 2:1 der Happel-Elf im Finale 1968 gegen Ajax Amsterdam unter Rinus Michels war eine große Sache und dürfte die Führungsetage in Rotterdam endgültig von den Fähigkeiten des Österreichers überzeugt haben.
Der fand dort bereits ein funktionierendes Team vor. Unglaublich: Trainer Ben Peeters hatte mit Feyenoord das Double gewonnen, trotzdem wurde er abgelöst. Noch unglaublicher: Peeters nahm die Demütigung hin und trat als Nachwuchstrainer ins zweite Glied zurück. Für Willem van Hanegem, der bis heute als bester Feyenoorder aller Zeiten gilt, brachte der Österreicher vor allem Professionalität, Siegermentalität und unerschütterliches Selbstvertrauen mit. „Happel“, so Van Hanegem in einem Gespräch mit der Zeitschrift Voetbal International (VI), „gab kaum einmal Instruktionen. Der ließ uns selbst nachdenken. Happel war immer überzeugt. Von sich selbst und von seinen Spielern.“
Aber es passierte noch mehr. Happel etablierte Abseitsfalle, Pressing und das 4:3:3-System in Rotterdam, wobei sich nach Auffassung van Hanegems die Mannschaft letzterem schon zuvor instinktiv angenähert hatte. Das 4:3:3 sollte in der Folge zur holländischsten aller taktischen Formationen werden, quasi zu einer ballesterischen Staatsreligion. Es war diese Dreieinigkeit, mit der Happel seine Mannschaft zur absoluten Avantgarde im Weltfußball erhöhte.
Eine Formation von Welt
Personell tat sich wenig. Von Ajax wurde der Außenverteidiger Theo van Duivenbode verpflichtet, aus Schalke holte Happel den dort unglücklichen Franz Hasil nach Rotterdam und platzierte ihn dort neben van Hanegem ins Mittelfeld. Nach vorübergehenden Anpassungsproblemen schlug Schnitzel rasch ein. „Der Hasil“, formulierte Happel in seiner unnachahmlichen Privatsprache, „das war ein gottbegnadeter Fußballer. Nur hat man ihm müssen beibringen auch die Einstellung.“ (sic!) Für Wim Jansen war Hasil „der Schalter, der im Mittelfeld noch gefehlt hatte. Einer der tief ging und Gefahr ausstrahlte.“ Dabei war Jansen, den defensiven Part im Mittelfeld gebend, selbst ein absoluter Schlüsselspieler. Österreichs damals vielleicht bester Kicker blieb, aller Erfolge zum Trotz, nur zwei Jahre bei Feyenoord, wechselte danach zu Austria Klagenfurt. Warum, das konnte Hasil sich selbst nicht erklären.
Happel machte aber auch seinen Frieden mit van Hanegem, von dem er zunächst nicht so recht überzeugt war. Zumindest, soweit das eben ging. Happel in einer ORF-Dokumentation: „Willem war ein ganz großer Fußballer, aber mit dem Mann habe ich nur Komplikationen gehabt. Einmal in der Woche, beim konditionellen Training ohne Ball.“ Van Hanegem, selbst eine äußerst eigenwillige Persönlichkeit, hielt davon nämlich herzlich wenig. Sein Verhältnis mit dem Wödmasta charakterisierte er als Hass-Liebe. Ersterer dürfte aber mit der Zeit immer mehr verblasst sein, denn der wegen seiner Effet-Passes der Krumme genannte van Hanegem erzählt die alten Geschichten mit einem Lächeln. Happel, erinnert er sich in einem Interview für das niederländische Fernsehen, brauchte nur zehn Minuten, um bei der Besprechung die Stärken und Schwächen des Gegners zu erläutern. „Später hörte man Trainern einen halben Tag zu. Aber die sagen nichts. Die wissen nichts.“
Happel war eben das Gegenteil eines Plauderers. Rhetorik war ihm nicht in die Wiege gelegt worden, und er hatte auch nicht das geringste Interesse an so etwas wie Eigen-PR. Seine Auffassung von Fußball vermittelte er nicht mit Worten, sondern ganz praktisch: in seinen Trainingsformen. Vielleicht erfuhren auch deshalb die durchaus epochalen Entwicklungsschritte, die er in Rotterdam setzte, nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Diese sollte stattdessen Ajax Amsterdam voll und ganz auf sich ziehen, dem bis heute das Urheberrecht jenes Stils zugeschrieben wird, den seit Generationen jedermann unter dem Namen Totaalvoetbal kennt. Dabei, so ist etwa van Hanegem überzeugt, war es Feyenoord, das den Fußball in dieser Periode viel stärker verändert hat. In Amsterdam vollzog Trainer Michels den Systemwechsel vom 4:2:4 zum 4:3:3 erst, als ihm ein schmeichelhaftes 3:3 gegen Rotterdam die Augen öffnete. Außerdem, so van Hanegem in VI, setzte der Erzrivale vor allem auf den Umschaltmoment und die sich darin entfesselnden überragenden Fähigkeiten von Cruyff und Piet Keizer. Überhaupt sei Ajax deutlich tiefer gestanden als Feyenoord, das offensiver orientiert gewesen sei, dominant, und auch als Einheit besser ausbalanciert.
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Das Milan-Meisterstück
Das beste Spiel der Meistercup-Kampagne 69/70 legte Feyenoord bereits im Rückspiel der 2. Runde hin. Der Gegner hieß, wie gesagt, AC Milan, seines Zeichens Titelverteidiger − und Feyenoord eigentlich Feijenoord. Erst 1971 wurde beschlossen, den Namen des Klubs anzupassen, jenen zu Liebe, die, des niederländischen nicht mächtig, an der Aussprache des langgezogenen ij regelmäßig scheiterten. Wie auch immer, Milan, die Elf von Nereo Rocco, hatte im Finale der Vorsaison Ajax mit 4:1 auseinandergenommen. Amsterdam war chancenlos gewesen. Wenige Wochen vor dem Duell mit Feyenoord waren die Italiener allerdings durch die Hölle gegangen. Im Intercontinental Cup, dem Vorläufer des Weltpokals, setzte sich Milan zwar gegen Südamerika-Champion Estudiantes de la Plata durch (3:0; 1:2). Das Rückspiel in Buenos Aires aber ging als eines der brutalsten in die Fußballhistorie ein, die Argentinier traten auf alles, was sich bewegte (und auch auf alles, was sich nicht bewegte).
Feyenoord hatte bereits beim Hinspiel im San Siro eine starke Leistung gezeigt, nur knapp mit 0:1 verloren, eigentlich aber ein Remis verdient gehabt. Man ging mit Zuversicht in die Entscheidung auf eigenem Feld − nicht unbegründet, wie sich schnell herausstellen sollte. Jansen brachte die Rotterdammer nach Zuspiel von Hasil früh in Führung, sein hoher Ball senkte sich von der rechten Strafraumgrenze hinter dem Mailänder Keeper Fabio Cudicini ins Netz. Ob die Aktion des taktisch gewieften Mittelfeldmotors auch so beabsichtigt war, wurde nie ganz geklärt. Van Hanegem zog in der 82. Minute mit einem Kopfball zum 2:0 einen Strich unter das Kräftemessen mit dem Favoriten. Typischerweise am langen Eck auftauchend, wuchtete er den Ball ins Goal. Sein Team sei sich, resümierte Wim Jansen im Oktober 2019 auf feyenoord.nl, seiner Fähigkeiten bewusst gewesen und habe diese im notwendigen Moment dann auch realisiert. „So hohe Qualität haben wir danach vielleicht nie mehr gezeigt.“ An diesem Abend sei eben alles zusammengekommen. Und was war das für ein Abend! Auf den Fernsehbildern sieht man, einen Meter hinter den Auslinien, wüste Massen enthusiastisch delirieren. Rotterdams Kuip fasste da noch über 60.000 und angesichts der Menge an energetischer Entladung, die vom bekannt heißblütigen Feyenoord-Anhang offenbar abgestrahlt wurde, würde der heutigen Stadionversion wohl das Dach wegfliegen. Die damalige hatte keines.
Als Außenseiter in ein anrüchiges San Siro
Das Endspiel in Mailand am 6. Mai hätte dann beinahe nicht stattfinden können, Italien wurde anno 1970 durch ausgedehnte Streikwellen lahmgelegt. In San Siro roch es streng, denn auch die Müllabfuhr hatte sich eine Auszeit genommen. Letztlich brachte der Fußballverband die Partie aber doch über die Bühne. Ein Wink der UEFA, die Teilnahme italienischer Teams an den europäischen Bewerben könnte andernfalls künftig in den Sternen stehen, dürfte seinen Beitrag geleistet haben.
Celtics Formation bestand im Kern noch aus den Lisbon Lions, den Meistercup-Siegern von 1967. Manager Jock Stein, bereits damals ein renommierter Mann, verfügte also über eine eingespielte Mannschaft, die die Szene in Schottland unangefochten beherrschte. Man befand sich auf dem Weg zur fünften Meisterschaft in Folge, tatsächlich sollte die glanzvolle Serie am Ende nicht weniger als neun Titel hintereinander abliefern. Auf dem Weg ins Endspiel hatte Celtic zudem die namhafteren Gegner ausgeschaltet: Benfica, die Fiorentina und im Halbfinale auch noch Leeds United. Englands Meister unter Don Revie galt als außerordentlich begabtes Team, dem zudem jedes Mittel zum Erfolg recht war. Doch das berüchtigte Starensemble kam mit seinem Latein ans Ende, beide Vergleiche gingen an die Schotten. Kurz: Feyenoord ging als Außenseiter ins Finale.
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Celtics Vorhaben dort braucht nicht viel Erklärung, es lief schlicht darauf hinaus, den Ball so schnell wie möglich hinaus auf den rechten Flügel zu verfügen. Dort wartete Jimmy Johnstone auf Fütterung, ein Dribblanski von echtem Schrot und Korn. Nun, auch das war ein System − wenn auch ein reichlich simples. Denn am Ende vertraute es ja doch auf die Qualitäten des Individuums. Feyenoords Manier erwies sich im Vergleich dazu als deutlich komplexer, involvierte eine viel größere Anzahl an Spielern, war fußballerisch wie intellektuell anspruchs- und voraussetzungsvoller. Es ist auffällig zu sehen, wie konstruktiv und geduldig Happels Mannschaft ihr Spiel aufbaute. Feyenoord setzte auf den flachen, eher kurzen Pass und hielt diese Maxime auch in Drucksituationen durch. Die Niederländer praktizierten Raumdeckung und wirken in der Arbeit gegen den Ball sehr modern. Jansen und van Hanegem verschoben nach rechts, wo sich Johnstone nun – Außenverteidiger van Duivenbode inklusive – von drei Gegenspielern hoffnungslos übermannt sah. So beherrschte Feyenoord das für damalige Verhältnisse intensiv und schnell geführte, jedoch nicht hochklassige Match über weite Strecken.
Lo Bellos Beitrag
In Führung ging nach einer halben Stunde allerdings Celtic. Der als Kanonier gefürchtete Tommy Gemmel hatte einen Freistoß zum 0:1 versenkt, nachdem ihm Bobby Murdoch den Ball clever mit der Ferse aufgelegt hatte. Die Hauptrolle bei der Sache spielte allerdings ein Mann mit klingendem Namen. Als Gemmell anlief, hatte sich Concetto Lo Bello, der Referee aus Italien, ausgerechnet hinter der Feyenoord-Mauer positioniert, wurde beinahe abgeschossen und verstellte dem armen Tormann Eddy Pieters Graafland vollständig die Sicht. Beinahe postwendend jedoch glich Rinus Israel, Feyenoords Kapitän und beinharter Libero, allein am Fünfer stehend per Kopf aus. Die Celtic-Verteidigung hatte eine weite Hereingabe nicht klären können. In der Folge hatten die Niederländer mehrfach Gelegenheit, das Spiel in der regulären Spielzeit für sich zu entscheiden − doch Hasil traf nur die Stange und einmal auch die Unterkante der Latte. Das bemerkenswerteste am Auftritt der selbstredend noch im 4:2:4 verhafteten Schotten dagegen blieb, dass diese ihre Rückennummern nicht auf dem Trikot, sondern auf den Hosen trugen. So dauerte es bis zur 117. Minute, ehe Ove Kindvall doch das 2:1 gelang. Feyenoords schwedischer Goalgetter reagierte so schnell wie brillant, als Celtic-Kapitän Billy McNeill eine weite Vorlage in den Strafraum falsch berechnete und hernach versuchte, mit einem Hands zu retten, was noch zu retten war. Kindvall spekulierte nicht mit einem Pfiff des Schiedsrichters, sondern hob den Ball mit rechts elegant über den herausstürzenden Keeper Evan Williams ins Tor. Happels Feyenoord hatte Historisches geleistet: Erstmals legte eine niederländische Mannschaft Hand an einen europäischen Pokal und es war auch noch der mit den großen Ohren.
Jock Stein schloss dieses für ihn unerfreuliche Kapitel mit den Worten: „Nicht Celtic hat gegen Feyenoord verloren, sondern ich gegen Happel.“ Besagter blieb noch bis 1973 in Rotterdam, holte eine Meisterschaft und wurde dreimal zweiter hinter Ajax. Dann zog er weiter.