Wann ist ein Handspiel ein Handspiel? Ein Schiriexperte erklärt
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Wann ist ein Handspiel ein Handspiel? Ein Schiriexperte erklärt

Während knappe Abseitsentscheidungen mittlerweile fast zur Gänze dem VAR zum Opfer fallen, sorgt die Handspielregel nach wie vor für oftmaliges Stirnrunzeln. 90minuten und Schiriexperte Gerhard Gerstenmayer klären auf.

Seit 1871 dürfen Feldspieler den Ball nicht mehr mit der Hand spielen. Man möchte meinen, dass sich in rund 150 Jahren schon eine logische Handspielregel ausgeht. Dem ist aber nicht so, siehe Marco Cucurellas Handspiel bei der Euro 2024. Oder einige Entscheidungen in der laufenden und den letzten Spielzeiten der Admiral Bundesliga.

Das Cucurella-Handspiel, so der erfahrene Schiedsrichter und Regelhüter Gerhard Gerstenmayer, hätte einen Strafstoß nach sich ziehen müssen. Bei anderen derartigen Vergehen gibt es allen Konkretisierungen der Handspielregel zum Trotz einen gewissen Interpretationsspielraum. Das ist ja auch bei Foulspielen der Fall – was für das eine Schiedsrichter/VAR-Gespann schon ein Foul ist, ist bei anderen ein hart geführter Zweikampf.

Das macht den Fußball ja auch attraktiv, führt dies doch zu Dolchstoßlegenden, lustigen Interviews und hitzigen Diskussionen am Stammtisch – dass dies nicht mehr der Fall sein könnte, war bekanntlich eine Befürchtung bei der Einführung des Video-Assistantreferee.

Klare Unklarheit

Alles kann damit auch nicht aufgeklärt werden - aber der Reihe nach. Die FIFA bzw. die obersten Regelhüter des IFAB konkretisierten in den letzten Jahren die Regel: Es ist nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand/dem Arm ein Vergehen. Offiziell lautet die Definition: Die Grenze verläuft unten an der Achselhöhle.

Handspiel? Be Cucurella hätte es eines sein müssen
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Handspiel? Be Cucurella hätte es eines sein müssen

Bezüglich des Kriteriums der unnatürlichen Vergrößerung des Körpers wurde bestätigt, dass die Schiedsrichter Augenmaß walten lassen sollen. Klarheit sieht anders aus, ist aber auch schwierig.  Aktuell gilt nun Folgendes. Es handelt sich um ein Handspiel, wenn ein Spieler:

  1. Absichtlich berührt: den Ball absichtlich mit der Hand/dem Arm berührt (z. B. durch eine aktive Bewegung der Hand zum Ball).

  2. Unnatürliche Vergrößerung: den Körper aufgrund der Hand-/Armhaltung unnatürlich vergrößert. Hierbei gilt: Der Spieler geht das Risiko einer Bestrafung ein.

  3. Torerzielung: ins gegnerische Tor trifft: direkt mit der Hand/dem Arm (ob absichtlich oder nicht) unmittelbar, nachdem er den Ball mit der Hand/dem Arm berührt hat (ob absichtlich oder nicht).

Ein unabsichtliches Handspiel, das zu einer Torvorlage führt, ist kein Vergehen mehr. Bei der Strafstoßfrage entscheiden die Schiedsrichter nun auch über die Frage, ob eine glasklare Torchance verhindert wurde oder nicht – bei unabsichtlicher Vereitelung ist seit 2024 Gelb statt Rot zu geben.

Warum so kompliziert?

"Das Problem liegt nicht in der Theorie", erklärt Gerstenmayer. Das Schwierige ist schlichtweg die Bewegung von Ball bzw. Spieler: "Wir Schiedsrichter müssen dann herausfinden, ob die Bewegung natürlich war oder nicht, ob der Ball von weit weg kommt oder aus kurzer Distanz, ob der Spieler den Ball überhaupt sieht oder nicht."

Die logische Schlussfolgerung daraus: All diese Parameter werden von Schiedsrichter zu Schiedsrichter unterschiedlich bewertet, wenn es sich um höchst strittige Szenen handelt. Hinzu kommt, dass sich durch den VAR die gesamte Diskussion auf die strittigsten Szenen fokussiert. Denn die haarsträubendsten Fehler bzw. Szenen, die durch die TV-Bilder leicht korrigierbar sind, fallen ja raus. 

Gerstenmayer erklärt praxisnah die gängigsten Handspiele und deren Auslegungen.

Klares Handspiel

Vorneweg: Stellt das Schiedsrichterteam fest, dass ein Spieler absichtlich zum Ball geht, ist es immer ein strafbares Handspiel. Das betrifft nicht nur Offensichtliches, sondern auch: "Bewegt sich der Spieler bzw. der Arm des Spielers aktiv in die Flugbahn des Balles, ist es strafbar."

Immer ein Handspiel ist es, wenn der Spieler den Ball mit den Armen oberhalb der Schulter berührt. Das kommt bei Sprungbewegungen vor. Und: "Hier zählt nicht, ob es Absicht war oder nicht." Die erste Bewertungsgrundlage für den Schiedsrichter ist also: Hat der Arm bzw. die Hand dort, wo der Ball beim Impact war, etwas verloren. 

Das gilt auch beim Reinrutschen: Stützt sich der Spieler ab, ist es kein Handspiel; streckt er den Arm zu weit weg, dann schon. Die Faustregel: Je senkrechter der Arm zu Boden geht, desto klarer ist es ein Abstützen.

Unklarheit durch Bewegungen

Entscheidend ist beim Handspiel die Bewegung. Wenn die Ballberührung Folge einer natürlichen Bewegung ist – ein Spieler dreht sich bei einem Schuss nach hinten – wäre auf Weiterspielen zu entscheiden. Hierbei können Grauzonen entstehen, denn die Schiedsrichter müssen ein wenig die Zukunft deuten.

Vielleicht ist genau der Bewegungsaspekt von Anthony Taylor das Entscheidende gewesen, weswegen Cucurellas Handspiel nicht geahndet wurde. Allerdings hat dieser seine Körperfläche stark verbreitert, dass man einen Eingriff hätte feststellen müssen. 

Wichtig ist, dass es klare Bilder dazu gibt. Gibt es diese nicht, dann kann bzw. sollte der VAR bei einer 50/50-Entscheidung nicht eingreifen.

Gerhard Gerstenmayer

Denn verbreitert ein Spieler den Körper so stark und das nicht aufgrund einer Bewegung, muss nicht einmal Absicht vorliegen. Wie läuft die dazugehörende Einschätzung des Schiedsrichterteams nun ab?

VAR hilft – oder nicht?

Der Schiedsrichter teilt per Headset sofort mit, was er wahrgenommen hat. Im Rahmen eines Silent Checks überprüft der VAR (während der AVAR weiter schaut), ob diese Wahrnehmung auch stimmt. Kommt der VAR zu einem anderen Schluss, bereitet er diese auf und empfiehlt, dass der Schiedsrichter sich die Szene am Feld ansieht. Getroffen werden muss die Entscheidung immer zuerst vom Schiedsrichter. 

Dieses On-Field-Review ist optional für den Schiri: "Wichtig ist, dass es klare Bilder dazu gibt. Gibt es diese nicht, dann kann bzw. sollte der VAR bei einer 50/50-Entscheidung nicht eingreifen." 

Die Wahrscheinlichkeit, dass das gesamte Schiedsrichterteam vom Haupt-Schiri bis zum AVAR etwas falsch entscheiden, beziffert Gerstenmayer mit maximal zehn Prozent. Seiner Auffassung nach ist das ein guter Wert.

Manchmal muss man zwei-, drei-, viermal hinschauen
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Manchmal muss man zwei-, drei-, viermal hinschauen

Bei all diesen Parametern geht es sogar weniger darum, dass die Einschätzungen so weit auseinandergehen, die Bildqualität bzw. Kameraposition ist eher dafür verantwortlich, dass Situationen nicht aufgelöst werden können.

Klarheit, aber wie?

Wie ginge es leichter? "Eine Möglichkeit wäre es, das Handspiel immer zu bestrafen, wenn der Schuss aufs Tor geht. Und wenn der Ball nicht dort hingeht, dann gebe ich einen indirekten Freistoß."

Entscheidender aus seiner Sicht ist es, dass es innerhalb der Ligen – also dort, wo der ÖFB Handhabe hat – eine Linie vorherrscht.

Warum die IFAB bzw. die FIFA es nicht schaffen, eine gute, stringente Lösung zu finden, weiß er nicht. Es wurde schon viel probiert, weil man weder jede Berührung bestrafen kann, noch gar keine. Gerstenmayer wirft insofern die Frage auf: "Hast du eine Lösung?"

Diese Frage geben wir gerne an die Community weiter!


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