ballesterer #108: Ivica Osim - Das Spiel von Katz und Maus
In Japan nennen sie ihn den Lehrer, Sturm Graz hat er eine völlig neue Spielphilosophie beigebracht, und Jugoslawien war unter ihm eine der stärksten Mannschaften Europas. Ivica Osim hat nicht nur am Platz Spuren hinterlassen, sondern auch, weil er einen
An seinem zweiten Geburtstag ist Ivica Osim 66 Jahre alt. Er befindet sich in Tokio. In der Jutendo-Universitätsklinik wacht er am 26. November 2007 aus dem Koma auf. Ein Schlaganfall hat ihn fast umgebracht. Zehn Tage lang hat seine Frau Asima um sein Leben gebangt. In ihrem Haus im Tokioter Vorort Chiba war Ivica Osim plötzlich leblos neben ihr im Bett gelegen. Sie hatten sich im Fernsehen ein Spiel aus der Premier League angesehen. Als er aus dem Koma aufwacht, merkt er, dass er linksseitig teilweise gelähmt ist. Er schlägt die Augen auf und sieht Asima. Sie beugt sich über ihn, und er flüstert ihr zu: „Wie ist das Spiel ausgegangen?“ Asima lächelt. Freudentränen laufen ihre Wangen hinunter. Ivan, wie sie ihn nennt, geht es wieder besser. Doch sein Leben wird sich ab jetzt völlig ändern. Er spricht nur mit Mühe. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, Ivan hat überlebt.
Ungeduldig in die Therapie
Ivica Osim beschreitet den langen Weg zurück. Nach drei Tagen absolviert er erste Gehübungen. Im Februar 2009 treffe ich ihn zum ersten Mal zu einem langen Gespräch. Nach vielen Jahren der stummen Bewunderung als Sturm-Fan begegne ich ihm an einer Wegscheide, fernab von seinen Erfolgen, aber kämpferisch wie zuvor: „Weil ich so ungeduldig bin, habe ich viel mehr Übungen gemacht, als die Ärzte verlangt haben. Aber zu viel ergibt manchmal das Gegenteil“, sagt er. Er stützt sich auf einen Stock und seine Frau Asima. Er muss lernen, mit seinem neuen Körper umzugehen. Als ich an diesem kalten Wintertag in seine blauen Augen schaue, stelle ich mir den gebrechlichen alten Mann als kleinen Buben vor.
Wie er in seiner Heimatstadt Sarajevo Fußball spielt, dann für Zeljeznicar stürmt und in Frankreich seine Fußballkarriere ausklingen lässt. Ich verfolge seine Zeit als Trainer von Zeljeznicar und des letzten jugoslawischen Nationalteams. Ich sehe ihn hier in Graz, als er Sturm im Trainingszentrum des Vereins auf Erfolge vorbereitet. Jetzt ist er aus Japan zurück, wohin ich ihn nie hatte fortgehen lassen wollen. Ich habe Angst, ihn mit den Anstrengungen eines Interviews zu überfordern. Er sagt: „Na ja, die Psychologin in der Sigmund-Freud-Klinik in Graz wollte gerade testen, ob mein Kopf noch funktioniert. Da habe ich sie die Abseitsfalle abgeprüft.“
Therapieübungen bestimmen seinen Alltag. Sein zweites Leben wird viel kürzer sein als sein erstes. „Ich fühle mich körperlich wie ein altes Haus, in dem eine Bombe explodiert ist. In mir ist alles zerstört. Der Vorteil ist aber, ich spüre links keine Schmerzen mehr. Ich kann also beruhigt zum Zahnarzt gehen“, sagt er der Kleinen Zeitung im November 2008. Da klingt er wie der Osim aus seinem ersten Leben. Der Osim, der nicht eine, sondern die vielen Seiten des Lebens abwägt, die es zu bieten hat. Der neu geborene Osim lacht mehr als der alte. Sein Lachen, so hat er in seiner Zeit als Sturm-Trainer immer wieder gesagt, habe er wegen des Kriegs in seiner Heimat verloren. Bei einem Bombeneinschlag in seinem Kopf hat er es wiedergefunden.
Nie mehr Trainer
Sein wacher Geist räumt die Bombenschäden schnell weg. Wie zuvor bestimmt die Frage nach dem Resultat des jeweils letzten Spiels seinen Alltag. Sie ist sein Motor. „Wie ist das Spiel ausgegangen?“, „Was lerne ich daraus?“, „Welche Auswirkungen hat es auf die nächste Partie?“ Es ist aber auch die Testfrage, mit der er jedes unserer Gespräche beginnt. Osim kennt das Resultat, nach dem er mich fragt. Es geht ihm darum, mich kennen zu lernen. Diese Frage ist Teil des Pingpongspiels, mit dem er seine Umwelt ständig erforscht. Seinen nächsten Schritt passt er auf die Reaktion an. Lässt sich sein Gesprächspartner herauslocken, geht er verbal in den Konter. Zieht sich sein Gesprächspartner zurück, versucht Osim ihn aus der Reserve zu holen. So wie früher als Spieler und Trainer mit dem Ball. Er nennt diese Taktik „Katz und Maus“. Sie ist die Quintessenz seiner Fußballweisheit – der kontrollierten Offensive.
Bald nach seinem Schlaganfall ist klar, dass der Körper mit der Genesung seines Geists nicht Schritt halten wird. Die Ärzte sprechen von einem Heilungsprozess von sieben Jahren. Heute ist er trotz intensivster Therapie immer noch stark beeinträchtigt. Er probiert verschiedenartige Behandlungen, doch eine Rückkehr auf die Trainerbank ist ausgeschlossen. Zu groß wären die körperlichen Strapazen, zu stark die emotionale Belastung. Wollen würde er schon. Die Karriere eines der größten Trainer des internationalen Fußballs der Jahrtausendwende findet nach 29 Jahren ihr Ende in einer Durchblutungsstörung seines Gehirns.
Der Lehrer
Sein Amt als japanischer Teamchef übernimmt Ende 2007 Takeshi Okada. Vier Jahre lang hatte Osim versucht, den Japanern seine Idee vom Fußball beizubringen. Den mittelständischen Klub JEF United trainierte er ab 2003 und machte ihn zum Titelkandidaten und zweimaligen Ligapokalsieger. Die Anerkennung für Osim im Land ist so groß, dass ihn der Fußballverband 2006 zum Teamchef bestellt. 2005 erscheint ein Buch mit Osims Sprüchen, es verkauft sich 400.000-mal. Der Videospielhersteller Sega bringt 2009 das Spiel „J-League 6“ mit Osim auf dem Cover heraus. Japanische Medien nennen ihn Sensei, den Lehrer.
Allerdings beginnt er vor seinem Schlaganfall zunehmend an seinen Schülern zu verzweifeln. „Die Japaner würden gern die Formel für meine Fußballlehre kopieren und anwenden. Aber die gibt es nicht“, sagt mir Osim einmal. „Es geht um Arbeit, Arbeit, Arbeit und die Freiheit, im richtigen Moment Risiko zu nehmen und eine Entscheidung zu treffen. Sie würden mich aber gerne noch vor dem Tor fragen, was sie jetzt tun sollen.“ Zugleich schätzt er die hohe Disziplin und die enorme Lernbereitschaft der Japaner.
Doch als der zweimalige Asien-Cup-Sieger 2007 beim Versuch, den Cup zum dritten Mal in Folge zu gewinnen, mit einem 1:1 gegen Katar startet, verliert Osim die Nerven. Er nennt seine Spieler Amateure und fährt seinen Übersetzer so laut an, dass dieser zu weinen beginnt. Der Druck auf den Teamchef ist groß und die Vorbereitungszeit auf das Turnier kurz. Als er sich beim Viertelfinale gegen Australien vor dem Elfmeterschießen in die Kabine zurückzieht, wird ihm vorgeworfen, die Mannschaft nicht ausreichend zu unterstützen. Osim sagt nach dem Spiel: „Elfmeterschießen sind schlecht für mein Herz. Ich möchte nicht als Trainer der japanischen Nationalmannschaft, sondern in meiner Heimatstadt Sarajevo sterben.“ Als er sich Ende 2008 aus Japan verabschiedet, ist seine Bilanz als Teamchef trotz aller Schwierigkeiten positiv. Sein Wort hat bis heute Gewicht, seine Meinung zu anstehenden Entscheidungen und Entwicklungen im japanischen Fußball bleibt gefragt.
Ein Schwabe für Zeljeznicar
In Japan schließt sich der Kreis von Osims internationaler Karriere. Begonnen hat sie 1964, als er bei den Olympischen Spielen in Tokio vier Tore für Jugoslawien schießt. Zwei davon beim 6:1-Sieg über die Japaner. In Marko Tomas’ Biografie „Ivica Osim. The Game of His Life“ sagt Osim, dass er diese Episode längst vergessen hatte und die Japaner ihn bei seiner Rückkehr daran erinnert hätten. Es ist oft sinnlos, ihn auf seine Zeit als Spieler anzusprechen. Mit einer kurzen Bewegung der rechten Hand wird er die Frage wegwischen. „Ich bin immer viel zu lange am Ball geblieben“, sagt er dann. „Das zählt im heutigen Fußball nichts mehr.“ Der hoch aufgeschossene blonde Spieler von früher scheint ihn nicht mehr zu interessieren. Doch lässt man ihn einfach reden, kommen wie beiläufig Erinnerungen an eine Zeit, als er in den 1960er Jahren gemeinsam mit seinem Freund Miso Smajlovic ein gefährliches Offensivduo bildete. Ihr Klub, so wird er dann erzählen, heißt Zeljecnicar und trägt blau-weiße Farben. Es ist der Klub der Arbeiter und Zuwanderer in Grbavica, dem Heimatbezirk der beiden im Süden Sarajevos. Den blonden Osim nennen sie seit seiner Kindheit „Svabo“.
Seine Erfolge als Spieler wird Osim nie herausstreichen. Smajlovic und er schießen den Klub 1962 zurück in die erste Liga. Während ihrer gemeinsamen Karriere erhält keiner von ihnen je eine Rote Karte. Als der Klub 1964 die Vormachtstellung der großen Vier – Roter Stern, Partizan, Dinamo Zagreb und Hadjuk Split – bedroht, wird Zeljecnizar laut Osims Biografie aufgetragen, ein Spiel gegen Hadjuk Split zu verlieren. Osim versucht erfolglos dem Spiel fernzubleiben. Smajlovic und er treffen mehrmals die Stange. Die Mannschaft unterliegt 1:4. In Folge werden nur die beiden Angreifer ein Jahr lang gesperrt. Als Sündenböcke werden sie in einem Schauprozess verurteilt. Vor Gericht fragt Osim den Richter: „Wenn wir als abschreckendes Beispiel dienen sollen, warum sperren Sie uns nicht ein Leben lang?“ Kurz darauf erkrankt Osim schwer, seine Profikarriere steht an der Kippe.
Doch er übersteht diese Krise und wird 1967 zum besten Spieler der Liga gewählt. Eine große Anerkennung, die Spielern außerhalb von Belgrad und Zagreb nur selten zuteilwird. Osim steht am Höhepunkt seines Leistungsvermögens. Teamchef Rajko Mitic macht ihn zum Spielmacher für die EM 1968 in Italien. Im Semifinale schlägt Jugoslawien Weltmeister England 1:0, Osim verletzt sich. Da Auswechslungen noch nicht erlaubt sind, muss er durchspielen. Das ist Gift für seine Verletzung. Jugoslawien muss die Finalspiele ohne ihn bestreiten und unterliegt Italien.
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SCHWERPUNKT: IVICA OSIM
DER WEISE AUS SARAJEVO
Die zwei Leben des Ivica Osim
LEGIONÄR IN FRANKREICH
Osim als Spieler
„ER WAR DER BESTE TRAINER“
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