ballesterer #107: Athen, geteilte Stadt
Die griechische Fanszene gilt als eine der gewalttätigsten in Europa. In letzter Zeit kämpfen die Fans aber nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die Krise. Ein Blick auf eine Gesellschaft, die sich verändert, in der aber trotzdem vieles beim Alten
Es sieht aus wie ein Gefängnis. Die Fenster sind verriegelt, das umliegende Areal wird umfassend videoüberwacht. Der Zaun, der das Haus umgibt, ist um die drei Meter hoch, rechnet man den Stacheldraht an den Spitzen mit. Dahinter verbirgt sich das Hauptquartier von „Gate 13“, der Dachorganisation aller Fanklubs von Panathinaikos. Jeden Tag um 19.00 Uhr treffen sich hier Anhänger des Athener Klubs. Knappe 80 sind an diesem warmen Freitag Mitte September zusammengekommen. „Normalerweise sind es mehr“, sagt Odyseuss. „Aber die Krise hat auch hier ihre Spuren hinterlassen.“
Tatsächlich ist es nicht der griechische Fußball, der in den letzten Jahren für Schlagzeilen sorgte, sondern die Wirtschaftskrise. Im Juli 2015 war laut Eurostat ein Viertel der griechischen Erwerbsbevölkerung arbeitslos, unter den Jugendlichen war es fast die Hälfte. Auch die seit Jänner regierende Partei Syriza änderte daran wenig, der Druck der EU-Institutionen auf Griechenland ist ungebrochen – und hat Folgen. Die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel wurde erhöht, fast ein Drittel aller Haushalte muss heute mit einem Jahreseinkommen von unter 7.000 Euro auskommen. Der Abwärtstrend spiegelt sich auch im Fußball wider. Während in der Saison 2009/10 durchschnittlich über 7.500 Zuschauer Spiele der Super League besuchten, waren es in der letzten Spielzeit nur noch 3.300.
Traditionsvereine wie OFI Kreta und AEK Athen mussten aufgrund finanzieller Schwierigkeiten den Gang in untere Ligen antreten. Unter den Fans ist von Resignation dennoch nichts zu spüren. Die Stimmung in den Stadien ist gut, die Rivalitäten zwischen den großen Athener Vereinen sind wohlauf. Die Krise hat den Hass zwischen Panathinaikos, der nach zwei Jahren wieder erstklassigen AEK und Olympiakos aus der angrenzenden Hafenstadt Piräus nicht gemildert.
Das Gespräch mit „Gate 13“ findet in den gut abgeschotteten Hinterzimmern ihres Hauptquartiers statt. Durch eine zehn Zentimeter dicke Stahltür, die viermal abgeschlossen ist, gelangt man in den weniger öffentlichen Teil des Gebäudes. Hier finden sich zwei Schlafsäle für Fans von außerhalb. Auch ein Tätowierstudio, eine Radiostation und ein Fitnessstudio gibt es. Vier Boxsäcke hängen dort von der Decke, der Raum im zweiten Stock ist mit Matten ausgelegt. „Fight Club“ steht an der Wand des Zimmers. Das Haus ist das größte, das „Gate 13“ gehört. Insgesamt gibt es elf davon in Athen. Jeder der lokalen Klubs, die Teil von „Gate 13“ sind, besitzt eines. 26 dieser Klubs existieren im Rest von Griechenland, weitere in New York und im deutschen Lüdenscheid. „Uns gibt es auf der ganzen Welt“, sagt Hermes, der bei „Gate 13“ für die Medienarbeit verantwortlich ist. So wie alle anderen Gesprächspartner des Fanklubs will er seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen.
Einer für Tischtennis, alle für Basketball
Unter den Klubs gibt es eine strenge Arbeitsteilung. Die einzelnen Gruppen teilen sich die Randsportarten des Vereins auf. So ist beispielsweise der Panathinaikos-Fanklub „West Block“ für die finanzielle Unterstützung der Tischtennisspielerinnen zuständig. Für Basketball und Fußball aber tritt „Gate 13“ geschlossen auf. „In der Krise hat sich die Zusammenarbeit der Klubs verstärkt“, sagt Odyseuss. „Es kommt auch vor, dass wir in Deutschland Geld sammeln, um es den Gruppen hier leichter zu machen.“
An den sinkenden Zuschauerzahlen ändert das nichts. In der Saison 2009/10 war der Verein das letzte Mal Meister. Damals betrug der Zuschauerschnitt über 18.000. In der letzten Saison war es gerade noch ein Drittel davon. „Einerseits hat das mit der Krise zu tun“, sagt Hermes. „Wie soll ein 16-Jähriger ohne Arbeit 20 oder 30 Euro für eine Matchkarte zahlen können?“ Doch auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Der Zuschauerzuspruch sei in Griechenland stark vom Erfolg der Mannschaft abhängig. „Das ist anders als in Nordeuropa“, sagt Achilles, Vorsänger von „Gate 13“. „Wirklich viele Leute kommen nur dann, wenn wir Erfolg haben. Und den haben wir nicht.“ Tatsächlich ist Serienmeister Olympiakos die einzige Mannschaft, die ihren Schnitt stabil halten kann. Er liegt konstant bei über 11.000 Besuchern.
Auf den Erfolg wartet auch der zweite große Verein aus Athen, AEK, dessen letzter Titelgewinn fast 20 Jahre zurückliegt. Dennoch sind am dritten Spieltag fast 15.000 Zuschauer gekommen, um die Gelb-Schwarzen zu sehen. Die Haupttribüne des Olympiastadions, in dem AEK zurzeit spielt, ist bei sommerlichen Temperaturen voll. Die Fans feiern das erst zweite Heimspiel nach der Rückkehr in die oberste Spielklasse. 2013 war der Verein freiwillig in die dritte Liga abgestiegen, jetzt ist er wieder zurück. Die Spieler lassen sich von der Euphorie der Fans anstecken. Nach frühem Rückstand besiegt AEK die Gäste aus Ioannina 3:1. Nach dem letzten Treffer werden sogar auf den Sitzplätzen Bengalen gezündet. „Das ist anders als im Norden“, sagt der Journalist Nikolas Leontopoulos. „Pyrotechnik gehört zum Fußball einfach dazu, sie wird von allen akzeptiert.“
Die Fanszene von AEK gilt als die alternativste in Athen. In der Kurve finden sich „Refugees Welcome“-Banner, und vor dem Spiel wird ein riesiges Transparent quer über den Zaun der Hintertortribüne gespannt. „AEK ist die Mutter aller Flüchtlinge“ ist darauf zu lesen – eine Anspielung auf die eigene Geschichte, schließlich ist der Klub 1924 von griechischen Flüchtlingen aus der Türkei gegründet worden. Das hält die Fans allerdings nicht davon ab, die heutigen Gäste jagen zu wollen. In der Pause stürmen einige Ultras den abgesperrten Oberrang, auf dem die Ioannina-Fans untergebracht sind. Die Polizei kann eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern verhindern.
Einfache Regeln
Das ist nicht immer so. 2007, vor dem Cup-Halbfinale zwischen den Frauen-Volleyballteams von Panathinaikos und Olympiakos, wurde der 22-jährige Mihalis Filopoulos von Olympiakos-Fans mit Messern und Baseballschlägern attackiert. Er erlag wenig später seinen Verletzungen. Er ist nicht der einzige Tote im griechischen Fußball der vergangenen Jahre: 2008 wurde ein Olympiakos-Anhänger von Panathinaikos-Fans erstochen, 2011 und 2014 gab es weitere Todesfälle. Nachdem vor einem Jahr ein 46-jähriger Fan nach Auseinandersetzungen bei einem Drittligaspiel auf Kreta starb, sagte die Regierung alle Spiele des kommenden Wochenendes im Profisport ab.
Trotz dieser blutigen Geschichte sind in den meisten Fällen nicht Menschen, sondern die Gebäude der Fanklubs die Ziele von Angriffen. Jedes ihrer Häuser formuliert auch einen Gebietsanspruch, das Territorium geht weit über die Kurve hinaus. Zafiris Pizita vom griechischen Fußballmagazin HUMBA! sagt: „Fanaktivität passiert nicht an einem zentralen Ort, sondern in der ganzen Stadt und über das ganze Land verteilt.“ Die Karte Athens ist nicht nur in Bezirke, sondern auch in Fußballvereine aufgeteilt. Der Norden gilt als Hochburg von Panathinaikos, während die eigenständige Hafenstadt Piräus und die angrenzenden südwestlichen Gebiete Athens von Olympiakos kontrolliert werden. Das Stadtzentrum teilen sich Panathinaikos und AEK.
2013 explodierte vor einem Klubheim von „Gate 13“ in Petralona ein Dynamitsprengsatz, der nicht nur das Haus zerstörte, sondern auch 15 Autos im Umkreis in Mitleidenschaft zog. Petralona ist einer der südlichsten Bezirke der Stadt, der an Piräus grenzt. Hinter dem Anschlag werden Olympiakos-Fans vermutet. „Dort gibt es öfter Reibereien“, sagt Achilles, der aus dem Norden Athens kommt. „Aber auch bei uns sind schon Bomben explodiert.“ Menschen werden von diesen Sprengsätzen selten verletzt, da sie in der Nacht gelegt werden, wenn die Klubheime leer und unbewacht sind. Dennoch müssen die Führungspersönlichkeiten der Fanklubs mit der Gefahr leben, von rivalisierenden Fangruppen attackiert zu werden. „Wir haben keine Angst“, sagt Odysseus. „Wenn du im Spiel bist, kennst du die Regeln.“
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Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) Nr. 107 (Dezember 2015) – Seit 12. November im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)
SCHWERPUNKT: GRIECHENLAND
KLASSISCHE KÄMPFE
Die Athener Klubs und ihre Fans in Krisenzeiten
http://ballesterer.at/heft/thema/athen-geteilte-stadt.html
TANKER UND SKANDALE
Die Athener Oligarchen
PARTEIISCHER SCHIEDSRICHTER
Petros Konstantineas ist heute Syriza-Abgeordneter
„ES GIBT KEINEN DIALOG“
Fanexperte Loukas Anastasiadis im Interview
http://derstandard.at/2000025533432/Die-Krise-war-auch-eine-Chance
DER WEG NACH EUROPA
Ultras und Flüchtlinge
http://ballesterer.at/heft/weitere-artikel/kein-land-in-sicht.html
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Außerdem im neuen ballesterer
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