ballesterer #106 - Silvio Berlusconi: Der Ritter und seine Tafelrunde

Er versprach Italien wirtschaftlichen Erfolg und den Fans des AC Milan viele Meistertitel. Silvio Berlusconi baute einen der erfolgreichsten Klubs der Welt auf und wurde der mächtigste Mann des Landes. Nach knapp 30 Jahren geht seine Ära zu Ende. (Text: J


5:0 Carlo Ancelotti, Frank Rijkaard, Ruud Gullit, Marco van Basten und Roberto Donadoni haben getroffen und Real Madrid die höchste Nieder­lage seiner Europacupgeschichte zugefügt. Pierangelo Rigattieri war am 19. April 1989 dabei auf den Rängen des Stadions San Siro. Seine Stimme überschlägt sich, seine Augen leuchten noch heute, wenn der Redakteur des Blogs Milan Night von der Partie erzählt. Dabei war das 5:0 im Halbfinale des Meistercups nur das Vorspiel zu einer beispiellosen Erfolgsserie – in Italien, aber vor allem in Europa. Ein Monat später holte sich Milan mit einem 4:0 gegen Steaua Bukarest den Meistercupsieg. Den dritten in der Vereinsgeschichte, den ersten unter der Präsidentschaft Silvio Berlusconis. Vier weitere sollten folgen.


Mit Berlusconi hatte eine neue Ära begonnen. Das zeigt auch das größte Ausstellungsstück im Vereinsmuseum Mondo Milan: das Gerüst eines Hubschraubers. Es symbolisiert den Heliktopterflug des Neo-Präsidenten zum Trainingsauftakt der Saison 1986/87. Der Medienunternehmer Berlusconi landete unter den Fanfaren von Richard Wagners „Walküre“ und unter der Beobachtung zahlreicher Fernsehkameras mit einer simplen Botschaft auf dem Trainingsgelände: Hier wird ein neuer Weg beschritten.


Vom Staubsaugerverkäufer zum Millionär
Als Berlusconi Milan im Februar 1986 übernahm, wurde Italien noch von Sozialist Bettino Craxi und den Christdemokraten regiert, das private Fernsehen war ein Novum und der Verein ein Schnäppchen. 1980 war Milan zum ersten Mal in seiner Geschichte abgestiegen – wegen der Beteiligung am Manipulationsskandal „Totonero“. Auf den sofortigen Wiederaufstieg waren der sofortige Wiederabstieg und ein neuerlicher Aufstieg gefolgt, der Klub befand sich in der wohl größten sportlichen und finanziellen Krise seines Bestehens. „Berlusconi hat damals begriffen, dass ihn der Fußball noch hundertmal berühmter machen kann“, sagt Giuseppe De Bellis, Herausgeber des Fußballmagazins Undici. „Er ist auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. Die Serie A war als Meisterschaft mit Diego Maradona bei Napoli und Michel Platini bei Juventus schon wahnsinnig populär.“


Seinen Spitznamen, der ihn die folgenden Jahrzehnte begleiten sollte, verdankte Berlusconi dann auch gleich dem Fußball oder genauer gesagt Gianni Brera, dem bekanntesten Sportjournalisten des Landes. Der hatte ihn aufgrund eines Arbeitsverdienstordens, den Berlusconi 1977 erhalten hatte, Il Cavaliere, der Ritter, genannt. Wie Berlusconi überhaupt an das Startkapital gelangte, mit dem er einer der einflussreichsten Unternehmer Italiens wurde, ist bis heute Gegenstand zahlreicher Gerüchte. Seine Verbindungen zu Craxis sozialistischer Partei sollen geholfen haben, seine Mitgliedschaft in der Geheimloge P2 und Kontakte zur organisierten Kriminalität. „Er kommt aus einer kleinbürgerlichen Familie, hat als Unterhalter auf Kreuzfahrtschiffen gesungen und von Tür zu Tür Staubsauger verkauft, niemand weiß, wie er zu dem Reichtum gekommen ist“, sagt der Journalist Alberto Piccinini, der sich seit Jahren mit dem Werde­gang Berlusconis beschäftigt. „Aber im Zentrum des Projekts Berlusconi stand immer die Person Berlusconi.“


Das unterstreicht auch ein Besuch in Milano Due östlich der Mailänder Stadtgrenze. Am künstlich angelegten See steht eine Säule, die dem Erbauer der Satelliten­stadt gewidmet ist: Silvio Berlusconi. In den 1970er Jahren noch in der Bauwirtschaft tätig, hatte er den Ort direkt an der Einflugschneise des Mailänder Flughafens Linate errichtet. Berlusconi muss schon damals über einige Überzeugungskraft verfügt haben, immerhin änderten die Römer Behörden für ihn die Flugrouten über Mailand. Das davor eigentlich unbewohnbare Milano Due wurde zur Goldgrube und zur Heimat von Berlusconis nächstem Coup, denn von dort aus betrieb er seine Fernsehstationen.


Schnulzen für Ultras
„Abgesehen von Partien der Nationalmannschaft sind bis dahin keine Fußballspiele in Italien übertragen worden“, sagt De Bellis über das Turnier Mundialito zum Jahreswechsel 1980/81. Die bisherigen Weltmeister trafen anlässlich des 50-jährigen Bestehens der WM in einem Kurzturnier in Uruguay aufeinander, Berlusconi, der seit einigen Jahren private Lokalsender betrieb, sicherte sich die Übertragungsrechte. Da seine Stationen aufgrund des staatlichen Rundfunkmonopols nicht landesweit dasselbe Programm live übertragen durften, sendete er die Signale außerhalb seiner Heimatregion Lombardei mit einer kurzen Zeitversetzung und landete damit einen riesigen Erfolg.


Ähnlich sollte er später mit dem gesamten Programm seiner Lokalsender verfahren. Er ließ Sendungen aufzeichnen und dann am Folgetag landesweit ausstrahlen – das staatliche Rundfunkmonopol war de facto gefallen. Als die Behörden die Piratensender der Mediaset-Gruppe 1984 abdrehen wollten, erließ Premierminister Craxi ein Gesetzesdekret zum Schutz Berlusconis. Die Sender liefen weiter, eine tatsächliche Legalisierung des landesweiten Privatfernsehens folgte erst Jahre später. Berlusconis Programme prägten das Fernsehen, er setzte auf leicht verdauliche Inhalte mit Show und Unterhaltung. Die sollte auch sein Fußballverein liefern.


Berlusconi verpasste dem traditionellen Arbeiterverein der Stadt ein neues Image. „Er hat den Schnulzensänger Tony Renis eine Hymne komponieren lassen, herausgekommen ist dieses ‚Milan, Milan‘, das wie ein evangelikaler Chor klingt. Die Fans sollten das singen. Milan hatte damals linksextreme, machistische und durchaus gewaltbereite Ultras“, sagt Piccinini. „Aber es hat geklappt.“ Verkaufte Milan vor der Übernahme Berlusconis 36.624 Saison­abos, stieg die Zahl in der ersten Saison unter neuer Führung auf 52.520, in der zweiten gar auf 65.099. Eine Erfolgsstory hatte begonnen, erzählen sollte sie niemand besser als der Cavaliere selbst. „Berlusconi hat eine ganz eigene Version seiner Geschichte, es ist eine Art Heldenepos“, sagt Piccinini. „Seine Spieler sind dabei nicht nur Fußballer, sondern die Verkörperung von Werten. Da gibt es den Unermüdlichen, den Tapferen, den Mutigen und so weiter.“


Die Unsterblichen
Schon bald löste Berlusconi seine Versprechen gegenüber den Fans ein. Wichtigster Gehilfe wurde der bis dahin weitgehend unbekannte Arrigo Sacchi, der 1987 als neuer Milan-Trainer vorgestellt worden war. Er brach mit allen Konventionen im italienischen Fußball, seine Mannschaft fand als die „Unsterblichen“ Eingang in die Geschichtsbücher. Statt der bis dahin erfolgreichen Zona Mista, einer taktischen Entwicklung des Catenaccio, setzte er auf ein enges 4-4-2, Raumdeckung, Ballbesitz und Offensivpressing. Berlusconi unterstützte den Trainer demonstrativ, saß bei einigen Begegnungen auf der Bank und sorgte dafür, dass Sacchi die notwendigen Spieler bekam. Neben den im Verein aufgewachsenen Verteidigern Franco Baresi und Paolo Maldini handelte es sich dabei um Neuzugänge wie Carlo Ancelotti, Roberto Donadoni und das niederländische Dreieck Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco van Basten. „Das war die beste Mannschaft aller Zeiten“, sagt Rigattieri. „Man muss sich dieses Milan wie das Barcelona von Pep Guardiola vorstellen, nur körperlich stärker.“


Nach dem Meisterschaftsgewinn 1988 dominierte die Mannschaft den Meistercup 1989 nach Belieben, ein Jahr später konnte sie den Pokal beim Finale gegen Benfica Lissabon in Wien erfolgreich verteidigen. Milan war die unumschränkte Nummer eins im Weltfußball, der Meistercup die Lieblingsbühne des Präsidenten. Doch sie war ihm nicht groß genug. Immer wieder sprach er sich gegen das K.-o.-System aus und träumte öffentlich von einer europäischen Superliga. Das von Berlusconi bei einer Werbeagentur in Auftrag gegebene Konzept nahm die Entwicklung der 1993 eingeführten Champions League vorweg.

 


 

 

Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) Nr. 106 (November 2015) – Seit 15. Oktober im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

 

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