ballesterer #100: Wozu noch ballesterer?
Über Fußball zu schreiben, ist heute einfacher und zugleich schwieriger als vor 15 Jahren. Der Sport hat sich ebenso rasant verändert wie die Produktionsbedingungen. Auch in Zeiten von Printkrise und PR-Journalismus will der ballesterer kritischen Stimmen
Fußball ist überall. Während dieser Artikel entsteht, beschäftigt sich die österreichische Justiz mit zwei Fällen, die den Fußball berühren: dem Betrugsprozess gegen den mittlerweile freigesprochenen Ex-Bundesliga-Vorstand Peter Westenthaler und dem Verfahren gegen Mitglieder des Austria-Fanklubs „Unsterblich“ wegen Hausfriedensbruch. In unserer aktuellen Ausgabe berichten wir über den Tod von Fans, die am Sturz des Mubarak-Regimes in Ägypten beteiligt waren. Anlässlich der WM-Vergabe an Katar wird über Menschenrechte diskutiert und in den Klatschspalten über das neueste Stringtanga-Selfie von David Alaba. Der Fußball ist längst aus dem Stadion in Gerichtssäle, Finanzämter, NGOs, Talkshows und auf die Straße gewandert.
Er findet nicht in einer eigenen Sportwelt statt, sondern steht mit anderen Bereichen der Gesellschaft in Verbindung. Für die Berichterstattung ist das eine enorme Herausforderung, bedeutet es doch, dass sich Sportjournalisten anderen Themengebieten öffnen müssen, um diese Verstrickungen darstellen zu können. Genau diese Herausforderung – und die Weigerung vieler Medien, sie anzunehmen – hat zur Gründung unseres Magazin beigetragen: Der ballesterer wolle, so heißt es im Editorial der ersten Ausgabe, den gesellschaftlichen Aspekten, die nicht vom Sport zu trennen sind, den notwendigen Platz einräumen.
Alle schreiben mit
Die gewachsene Bedeutung des Fußballs hat aber noch einen weiteren Effekt: Jeder kann etwas dazu sagen. Oder schreiben. Diese Offenheit hat auch den ballesterer als vereinsübergreifendes Magazin vorangetrieben, in dem zunächst nicht ausgebildete Sportjournalisten ihre Texte veröffentlichten. Das und die Entwicklung der Kommunikationstechnologie. Der PC und das Internet haben die Produktionsmittel des Journalismus demokratisiert. Die sich rasant entwickelte Kommunikationsbranche hat nicht nur die Gründung, sondern auch die Professionalisierung des Magazins ermöglicht. Ohne die technischen Fortschritte gäbe es diese Jubiläumsausgabe, produziert an Rechnern in sechs verschiedenen Ländern, nicht. Die digitale Vernetzung erlaubt Recherchen, die von großen Redaktionen und Korrespondenten unabhängig sind.
Noch schneller geht es im Internet: Ein kostenloser Blog ist heute in zehn Minuten eingerichtet, ein Twitter-Account in drei. Die zahlreichen Fußballportale haben den Sportjournalismus bereichert. Und das obwohl oder gerade weil sie zu einem großen Teil als reine Liebhaberprojekte begonnen haben. Projekte wie der Blog von FM4-Moderator Martin Blumenau, das Internetportal 90minuten.at und der Taktikblog ballverliebt.eu verdanken ihre Existenz dem Internet, ihren Erfolg der mangelnden Qualität und den behäbigen Strukturen bestehender Printmedien.
Print im Teufelskreis
Das Internet hat aber auch den Fußballkonsum massiv verändert. Heute kann man von der österreichischen Bundesliga über die englische Premier League bis zur argentinischen Primera Division so ziemlich jedes größere Fußballspiel der Welt auf dem Computer sehen, Spielberichte sind wenige Minuten nach Abpfiff online. Dieses riesige Angebot sorgt aber nicht unbedingt für eine Verbreiterung der Berichterstattung, sondern oft für deren Angleichung. Die Berichte auf den Websites der großen Medien lesen sich meist gleich – weil sie die gleichen sind: übernommene Agenturmeldungen, bei denen Tempo wichtiger ist als Exklusivität oder Qualität.
Das Rennen um möglichst zeitnahe Berichte stellt die Printmedien nicht nur im Sportressort vor weiterhin ungelöste Probleme – denn wer will schon für die Nachrichten von gestern zahlen? Seit Jahren klagt die Branche über Umsatzrückgänge und Anzeigenkrisen und reagiert mit Sparprogrammen, die sich wiederum auf die Qualität der Zeitungen auswirken. Dass es manchen Redaktionen trotzdem gelingt, den Fußball anders zu erzählen, ist daher umso mehr zu würdigen.
Ein riesiges Angebot herrscht aber nicht nur bei den Objekten der Berichterstattung, sondern auch bei den Journalisten selbst. Gut bezahlte Vollzeitanstellungen sterben zunehmend aus, zu groß ist die Konkurrenz, zu abgabenschonend neue Beschäftigungsformen, zu schwach die Gewerkschaft. Dennoch boomt der Wunsch nach einer Karriere im Sportjournalismus nach wie vor. Kein Wunder, ist es doch ein Traum vieler, das Hobby zum Beruf zu machen. Die Begeisterung, die Akteure, Journalisten und Leser oder Zuschauer verbindet, ist ein Erfolgsfaktor für den Fußball ebenso wie für die mediale Berichterstattung. Und ein Problem. Viele Journalisten müssen regelmäßig über dieselben Vereine berichten. Sie steigen mit ihnen auf oder ab, treffen Woche für Woche dieselben Spieler, Trainer, Funktionäre und Presseleute. Sie pflegen ihre Kontakte und werden von diesen gepflegt. Der Grat zwischen beruflich nötiger Nähe und Verhaberung ist schmal, und nicht immer gelingt es, auf ihm unabhängig zu berichten.
PR-Journalismus
Zudem werden Spieler und Trainer bei Interviews zunehmend von Pressesprechern begleitet, die penibel auf die Wortwahl achten. Angestellte im Fußballgeschäft müssen öffentlich die Interessen des Unternehmens vertreten. Fußballer, die Stehsätze herunterbeten, sind jedoch nicht nur unglaubwürdig, sondern auch stinklangweilig. Insbesondere dann, wenn die Grenze des Erlaubten in Kniehöhe angesetzt wird. Als ein Spieler vor einigen Jahren in einem ballesterer-Artikel sagte „Das Stadion ist nicht bundesligatauglich. Vielleicht würden mehr Leute kommen, wenn wir ein schöneres Zuhause hätten“, wurde er von seinem Verein mit einer Geldstrafe belegt.
Groß ist auch die Aufregung, wenn Spieler zu engen Kontakt mit organisierten Fans pflegen oder politische Aussagen treffen. Deutlich wurde das im Herbst 2014 am Beispiel Steffen Hofmann, der einen Fandoppelhalter mit der Forderung zur Abschaffung des Strafrechtsparagrafen Landfriedensbruch zeigte. Nach der ersten medialen Empörung entschuldigte sich der Rapid-Kapitän für die Aktion. Spieler stehen enorm unter Druck, immer das Erwartbare zu tun und zu sagen. Und im Zweifel übernimmt diese Aufgabe die Presseabteilung.
Beim ballesterer wollen wir Interviewpartner nicht aushorchen oder unbedachte Formulierungen möglichst breittreten. Dem Wunsch nach Autorisierung kommen wir daher gerne nach: Interviewpartner dürfen sich korrigieren oder im Kontext missverständliche Äußerungen zurückziehen. Schwierig wird es, wenn die Grenze zwischen Journalismus und PR verschwimmt und zur Freigabe ausgeschickte Interviews mit feinsinnig ausgesponnenen Zusatztexten der Presseabteilung zurückkommen. Was der Imagepflege von Spieler und Klub dienen soll, hat zur Folge, dass selbst ansatzweise kritische Aussagen zu Standardfloskeln herunternivelliert werden. Dann braucht es Zeit und gute Nerven, um über den zu veröffentlichenden Text zu verhandeln.
Einladungen an Journalisten samt exklusiver Informationen sind ein anderer Weg der Vereine, um den Weg zu positiver medialer Begleitung zu ebnen. Es ist schwierig, bei so freundlicher Umarmung die Unabhängigkeit zu wahren. Auch Medien, die mit dem Anspruch angetreten sind, der Sportpresse auf die Finger zu klopfen, sitzen dann, schwupps, bei RB Leipzig auf der Tribüne, eingeladen vom Objekt der Berichterstattung.
Manche Klubs gehen noch einen Schritt weiter und produzieren journalistische Inhalte gleich selbst. Das kommt in Extremen wie beim Getränkehersteller Red Bull vor, der nicht nur eine Reihe an Fußballvereinen betreibt, sondern auch sein eigenes Medienhaus inklusive Fernsehsender. Aber auch andere Vereine wie der FC Bayern bieten Interviews zu potenziell brisanten Themen, wie etwa dem ersten Auftritt Mario Götzes in Dortmund, mitunter exklusiv beim klubeigenen TV-Sender an. Die Klubs liefern zunehmend als Berichterstattung getarntes PR-Material.
Fans als Randerscheinung
Eine Gruppe allerdings kommt in der Sportpresse selten vor: die Fans. Sie tauchen als jubelnde Menge in der Berichterstattung auf, aber nur solange sie nicht zur kritischen Masse werden. Eine laute Stimmung auf den Rängen ist eine schöne Randerscheinung, laute Stimmen gegen Vereinsführung, Polizei und Kommerz werden schnell zur Bedrohung des Systems Profifußball stilisiert. Der Weg von der Pressetribüne zur Fankurve ist weit, und er wird nur selten gegangen. Manchmal, weil der Verein akkreditierten Journalisten keinen Zugang zu allen Tribünen erlaubt. Manchmal, weil Journalisten Fangesänge und Botschaften auf Spruchbändern schlicht nicht zu deuten wissen; Diskussionen, die in den Fanszenen stattfinden, sind nicht ihr Thema.
Und sollte es das doch einmal werden, fragen sie bei Verein, Verband und Polizei nach, nicht bei den Fans selbst. Denn Kontakte in die Fanszene wollen, wie alle anderen auch, geknüpft und gepflegt werden, und das ist nicht leicht. Auch weil organisierte Fangruppen ein großes Misstrauen gegen die Medien entwickelt haben. Die Vereine und Verbände haben es bisher meist versäumt, hier Brücken zu bauen, oder sind nicht dazu in der Lage. Symptomatisch, dass im September 2014 ÖFB, Bundesliga und Innenministerium einen Medienworkshop zum Thema Fans veranstalteten und so ziemlich jeden einluden – außer Fans.
Für den ballesterer, auch das lässt sich im Grundsatzeditorial der ersten Ausgabe nachlesen, sind Fans immer ein Thema gewesen, nicht nur weil die meisten von uns lieber in der Kurve stehen, als auf der Pressetribüne zu sitzen. Durch lange, kontinuierliche und faire Arbeit haben wir uns das Vertrauen vieler Gruppen erarbeitet. Wir lassen Fans oft und prominent zu Wort kommen und berichten über ihre Anliegen. Das bringt uns mitunter auch Kritik ein. Wir würden Partei nehmen, Gewalttaten schönreden und seien Hooliganversteher. Wir nehmen dieses Feedback ernst. Zum kritischen Journalismus gehört jedoch die Einbeziehung der Blickwinkel aller Beteiligten. Und während die Stimmen von Fußballfunktionären, Politikern und Polizei ohnehin laut gehört werden, ist das bei denen, die oft pauschal als Chaoten, Kriminelle oder gar Taliban des Fußballs verunglimpft werden, anders.
Papier und Perspektive
Diese Grundsatzhaltung beim ballesterer wird sich nicht ändern. Die Notwendigkeit, Fußballgeschichten aus der Randperspektive und aus der Kurve zu erzählen, besteht auch 15 Jahre nach Gründung unseres Magazins. Die richtige Einordnung verschiedener Aussagen ist eine heikle Aufgabe: Sicher haben wir in diesem Bereich auch Fehler gemacht, haben es mit der Kritik übertrieben oder Darstellungen zu kritiklos hingenommen. Eigeninteressen von Gesprächspartnern – egal ob Spielern, Funktionären oder Fans – mitzudenken, ohne paranoid zu werden, ist immer wieder herausfordernd.
Auch unsere Leser und Leserinnen haben sich durch die Entwicklung der letzten Jahre verändert – sie können heute aus einem viel breiteren Reservoir an Informationen schöpfen und sind dadurch geschulter, aufmerksamer und kritischer geworden. Eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen wollen – und das auch weiterhin auf Papier. Denn so müssen wir uns von der Tagesaktualität nicht stressen lassen, können Geschichten aus einer kritischen Distanz betrachten und aufbereiten. Und der ballesterer kann auf dem Klo gelesen werden.
Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) Nr. 100 (April 2015) – Seit 19. März im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)
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