Der letzte Mittelläufer
Ernst Ocwirk sorgte für die letzte Innovation der Wiener Fußballschule. Mit präzisen Pässen, intelligenter Ballbehandlung und Torgefährlichkeit revolutionierte er in den 1950er Jahren die Position des Mittelläufers. Den Untergang des Wiener Spielsystems k
An der Autobahnabfahrt Pöchlarn gibt das Navigationsgerät des schwarzen Renault Laguna den Geist auf. Das niederösterreichische Örtchen Klein-Pöchlarn lässt sich noch ohne Probleme finden, danach müssen Einheimische helfen. „Das Ocwirk-Haus? Ja, ich weiß, wo das ist. Also passen'S auf ..." erklärt ein Passant an der Tankstelle. Fünf Minuten später stehen wir vor jenem Haus, in dem der zweifache FIFA-Kapitän und Spielführer der ÖFB-WM-Elf von 1954 seine letzten Jahre verbrachte. Hier endete für Ernst Ocwirk vor 34 Jahren die Lebensreise, und hier beginnt die Spurensuche des ballesterer.
Umgelernter Stürmer
Zum Fußball kam Ernst Ocwirk 1936, als sein Onkel den Neunjährigen zum Spiel der Floridsdorfer Admira gegen Austria ins Wiener Praterstadion mitnahm. Von da an war Ocwirk glühender Admira-Fan. Stürmer Karl Durspekt, mit dem er selber zehn Jahre später beim FAC spielen sollte, wurde sein Idol. Bei den Matches in der Stadlauer Gruam gegen die Auswahl von den Fiseler Gründen nahe des Wiener Nordbahnhofs unweit der elterlichen Wohnung in der Straßäckergasse zerriss er seine ersten Schuhe und Hosen. Am 5. März 1939 wurde Ernst Ocwirk schließlich Vereinsspieler: Kriegsbedingt fusionierte sein Jugendverein Stadlau mit dem FAC, der ehemalige Teamspieler Josef Smistik wurde Ocwirks Nachwuchstrainer. Mit 16 debütierte das Talent im „Tschammer-Pokal" in der mittlerweile nationalsozialistischen Ostmark in der Kampfmannschaft unter Eduard Frühwirth. Der spätere Teamchef setzte den Jugendlichen als Stürmer ein. Beim 11:0-Sieg gegen Post SV traf Ocwirk sechsmal.
FAC-Nachwuchstrainer Smistik erkannte schnell, dass Ocwirk das raumgreifende Spiel des Centrehalf, wie der zentrale Mittelfeldspieler damals genannt wurde, beherrschte und schulte ihn um. Smistiks Philosophie prägte Ocwirk: „Fußball ist ein Mannschaftssport", habe der Trainer immer gepredigt, schreibt Ocwirk 1956 in seiner Autobiografie. „Die vorbildliche Harmonie sei das Geheimnis vieler Siege des Wunderteams gewesen. Ich habe das nie vergessen."
Das System der Wiener Schule sollte perfekt zu Ocwirks Spielweise passen. Das pyramidenartige 2-3-5 war auf Ballbesitz und Kurzpasspiel ausgelegt, das Scheiberln. Die österreichische Nationalmannschaft der frühen 1930er Jahre, das sogenannte Wunder-team, perfektionierte diesen Stil. „Für diese Art Fußball wurde in der Welt so eine Propaganda gemacht, dass der österreichische Fußball bis heute davon zehrt", schrieb Willy Meisl, Bruder von Wunderteam-Trainer Hugo, 1953 in der Sport-Schau.
Ernst Ocwirk sollte in diesem System auf der Position des Mittelläufers brillieren, eine Schlüsselposition. Der Mittelläufer hatte einen großen Aktionsradius, er musste Angriff und Abwehr koordinieren. 19-jährig debütierte Ocwirk beim ersten Nachkriegsländerspiel im August 1945 in Budapest gegen Ungarn in der Nationalmannschaft. Österreich verlor das Spiel 0:2, jenes tags darauf gar 2:5. Gleichzeitig mit Ocwirk debütierte bei den Ungarn einer, der die „Goldene Elf" neun Jahre später als Kapitän zum Vize-WM-Titel führen sollte: Ferenc Puskas.
Zur schönen Austria
Im Sommer 1946 bemühte sich Rapid um den jungen Ocwirk, er trainierte sogar schon in Hütteldorf, doch seine FAC-Teamkollegen redeten ihm den Wechsel aus. Ein Jahr später sprach ihn Austria-Stürmer Josef Stroh am Floridsdorfer Spitz an und lud ihn zum Trainingslager am Wörthersee ein. Nach zähem Ringen zwischen den Vereinen unterzeichnete Ocwirk am 15. August 1947 schließlich bei der Austria. In seiner Autobiografie schrieb er später: „Die Austria ist für mich wie eine schöne Frau, sie hat mich wohl schon in den Träumen betört, ich habe ihr zuweilen auch scheu nachgeblickt, ich hätte aber nie versucht, mit ihr zu kokettieren. Zu sehr umschwärmt, zu unnahbar schien sie mir."
Die Austria hatte damals den Ruf, schön, aber nicht unbedingt effizient zu spielen. Ernst Ocwirk sollte das ändern. 1949 holte die Mannschaft mit Ocwirk zum ersten Mal seit 23 Jahren die Meisterschaft, 1950 und 1953 folgten zwei weitere Titel. „Die Läuferreihe mit Ernst Ocwirk, Leopold Mikolasch und Siegfried Joksch war in Österreich einzigartig", sagt der ehemalige Rapid- und Vienna-Verteidiger Franz Rybicki. Bei einer Tasse Tee in seiner Wohnung in Strebersdorf am Wiener Stadtrand erzählt der heute 93-Jährige über seine Duelle mit Ocwirk. „Mikolasch und Joksch waren technisch versiert und pfeilschnell, aber der Grund, warum wir in der Verteidigung oft das Nachsehen gehabt haben, waren die raumgreifenden Longpässe von Ocwirk." Beliebtestes Ziel dieser präzisen Pässe war Stürmer Ernst Melchior, der die 100 Meter in elf Sekunden gelaufen sein soll.
Der Longpass wurde das Markenzeichen von Ernst Ocwirk, doch auch das Spiel mit und ohne Ball beherrschte er in den frühen 1950er Jahren wie kein Zweiter. „Ocwirk hat mit dem Ball nie leere Meter gemacht, Alibipässe zur Seite ohne Raum-gewinn hat es so gut wie nie gegeben", sagt Ocwirks ehemaliger Teamkollege Hans Löser im Gespräch mit dem ballesterer. „Er war kein Messi, der fünf Gegenspieler ausgetanzt hat. Aber seine Fähigkeit, das Spiel zu lesen, die richtigen Passwege zu finden, sein strammer Schuss sowie sein Kopfballspiel – das war perfekt."
Auch Rudolf Rappel kommt ins Schwärmen, wenn er an die gemeinsame Zeit mit Ocwirk bei der Austria zurückdenkt. „Was Ocwirk auszeichnete, war seine physische Präsenz. Sobald er einmal den Fuß am Leder gehabt hat, war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, ihm dieses wegzunehmen. Und über seine Ballbehandlung brauchen wir gar nicht erst reden", sagt der heutige Inhaber einer Werbeagentur. An der Wand seines Büros in Wien-Landstraße hängen Fotos, auf denen auch Ocwirk zu sehen ist. „Die klassische Wiener Schule hat er aber eigentlich nicht gespielt", sagt der ehemalige Mittelfeldspieler. „Gescheiberlt haben andere, er hat die Vorbereitung dafür geleistet."
Kurioser Mittelläufer
Ocwirk legte die Rolle des Mittelläufers untypisch offensiv aus. Kurier-Journalist Wolfgang Winheim sieht seine Innovation in der Öffnung des Spielfelds: „Die große Schwäche der Spieler war damals, dass sie alle den Schädel auf der Erde gehabt haben. Ocwirk war immer aufrecht, da ist das Spielfeld gleich noch größer geworden." Auch seine Torgefährlichkeit unterschied ihn von früheren herausragenden Centrehalfs der Wiener Schule wie Smistik und Leopold Hofmann. Der Londoner Korrespondent des Zürcher Sport sah 1950 den 1:0-Sieg der Austria gegen den englischen Meister Tottenham in London: „Das einzige Tor wurde von keinem Stürmer, sondern von Mittelläufer Ocwirk erzielt. Das schlug dem Fass den Boden ein!"
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Inhalte des ballesterer (www.ballesterer.at) Nr. 89 (März 2014) – seit 12. Februar im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (http://kiosk.at/ballesterer)!
SCHWERPUNKT: ERNST OCWIRK
PÄSSE FÜR DIE EWIGKEIT
Ernst Ocwirk und die letzte Blüte der Wiener Schule
http://ballesterer.at/heft/thema/der-letzte-mittellaeufer.html
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Schlagzeilen gab es bei „Ossi“ nur auf dem Platz
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DAS GENIE AUS DEM PRATER
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Außerdem im neuen ballesterer:
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DR. PENNWIESERS NOTFALLAMBULANZ
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