Das Match um Brasilien
Geplant als größtes Fußballfest aller Zeiten, droht die WM in Brasilien von Protesten in den Schatten gestellt zu werden. Die Bevölkerung hinterfragt die Milliardenausgaben, die FIFA und die Mitte-Links-Regierung stehen am Pranger. Retten kann die Stimmun
Rio de Janeiro, 30. Juni 2013: Der Confed-Cup hat sein Traumfinale, Gastgeber Brasilien trifft auf Weltmeister Spanien. Knapp 74.000 Zuschauer verwandeln das aufwendig umgebaute Maracana in ein Tollhaus und werden Zeugen einer Machtdemonstration. Zwei Tore von Fred und eines von Neymar lassen die Spanier alt aussehen und Brasilien vom sechsten Weltmeistertitel träumen. Die Presse überschlägt sich mit Superlativen für das Team von Luiz Felipe Scolari, doch die Störgeräusche sind auch am Tag des Triumphs nicht zu überhören.
Vor dem Stadion setzt die Polizei Tränengas gegen Demonstranten ein. Es sind zwar nur ein paar Tausend und damit deutlich weniger als am Höhepunkt der Proteste, als zwei Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße gegangen waren, doch ihre Forderungen nach einem besseren Brasilien sind nicht zu überhören. Begonnen hatte alles mit Studentenprotesten in Sao Paulo gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr, die die Polizei vergeblich niederzuprügeln versuchte. Mittlerweile hat sich das Spektrum der Teilnehmer und ihrer Forderungen deutlich ausgeweitet. Mit starkem Rückhalt in der Mittelschicht fordert eine breite Masse Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitssystem, einen effizienteren und leistbaren öffentlichen Verkehr und die Bekämpfung der gerade bei den WM-Investitionen sichtbar werdenden Korruption. Slogans wie „Copa pra quem?“ (Die WM für wen?) sind auf den Transparenten vor dem Maracana zu lesen. Ein paar Aktivisten schaffen es sogar, die Schlusszeremonie zu unterwandern. Auch auf den Rängen können Ordner Protestkundgebungen nicht unterbinden.
Bye bye, Fußballfest
Der Confed-Cup und die mit ihm einhergehenden Ereignisse auf den Straßen haben die WM 2014 transformiert. Aus dem größten Fußballfest aller Zeiten, das den wirtschaftlich aufstrebenden Staat in die internationale Auslage hätte stellen sollen, ist eine Plattform für die Unzufriedenheit vieler Brasilianer geworden. Die Proteste sind auch nach dem Vorbereitungsturnier nicht abgerissen, sondern haben sich radikalisiert. Was die Frage aufwirft, was während der WM passieren wird. Dass sich die Wut auf die FIFA, die begünstigt von Sonderregelungen einen Großteil der Gewinne für sich und ihre Sponsoren abschöpft, und die Regierung, die sich diese Konditionen diktieren ließ, nicht in Luft auflösen wird, ist so sicher wie der tägliche Stau im morgendlichen Stoßverkehr von Sao Paulo.
Juca Kfouri nennt das Großereignis die WM der vergebenen Chancen. Die jüngsten Umfrageergebnisse, laut denen eine Mehrheit der Bevölkerung mehr Nach- als Vorteile durch die zweite Endrunde in Brasilien nach 1950 sieht, wundern ihn nicht. „Es ist ja von politischer Seite alles verbockt worden, was man verbocken kann“, sagt Brasiliens angesehenster Sportjournalist. Das Gespräch mit dem ballesterer findet in seiner Penthouse-Wohnung in Higienopolis, einem besseren Viertel von Sao Paulo, statt. Kfouri hat in 45 Berufsjahren für fast alle bedeutenden brasilianischen Sportmedien über Fußball geschrieben, ihn kommentiert und analysiert. Der linke Intellektuelle hat sich in den 1970er und 1980er Jahren gegen die Militärdiktatur aufgelehnt, heute reibt er sich an den Missständen des brasilianischen Fußballs ab.
Infight mit der CBF
„Unsere Verbände sind in barocken Beziehungsgeflechten erstarrt, die mich eher an die portugiesische Kolonialherrschaft erinnern als ans 21. Jahrhundert“, sagt Kfouri, tief in das graue Sofa seines Wohnzimmers gelehnt. Er erzählt von Freunderlwirtschaft, Postenschacher und Korruption – Themen, die er auch auf seinem „Blog do Juca Kfouri“ behandelt, der wöchentlich von mehr als einer Million Lesern aufgerufen wird. Seine Kommentare und Enthüllungsgeschichten haben Kfouri jede Menge Stress mit dem Fußballverband CBF eingebracht. Rund 50 Prozesse leierten dessen Funktionäre gegen den Journalisten an, die Protokolle der Auseinandersetzungen füllen ganze Ordnerschränke brasilianischer Gerichte.
Über viele Jahre war es vor allem der ehemalige Verbandschef Ricardo Teixeira, der Kfouri mit Klagen eindeckte. Von 1989 bis 2012 stand er der CBF als Alleinherrscher vor, trotz zahlreicher Vorwürfe und Prozesse wegen Korruption, Steuerhinter-ziehung und Geldwäsche. 2010 stellte ein Schweizer Gericht im Prozess zur Insolvenz des FIFA-nahen Sportvermarkters ISL fest, dass Teixeira zwischen 1992 und 1997 Schmiergelder in Höhe von mindestens 10,6 Millionen Euro kassiert habe. 2011 prahlte er noch, jede Untat begehen zu können, die er wolle. Wie zum Beweis handelte Teixeira als Chef des WM-Organisationskomitees mit der CBF einen Deal aus, wonach er an den WM-Gewinnen beteiligt werde, etwaige Verluste dagegen ausschließlich der Verband tragen solle. Im darauffolgenden Jahr war es mit der Selbstherrlichkeit allerdings vorbei.
Kurz nach seiner Wiederwahl legte der Vertraute von FIFA-Präsident Joseph Blatter seine Mandate in der CBF und im WM-Organisationskomitee (LOK) zurück und flüchtete vor der immer wahrscheinlicher werdenden gerichtlichen Verfolgung nach Florida. Dort erstand er um knapp fünf Millionen Euro ein Luxusanwesen und hat seither brasilianischen Boden nur für zwei Kurzaufenthalte betreten. Davor verschaffte Teixeira der Tochter seines ehemaligen Schwiegervaters Joao Havelange allerdings noch einen führenden Posten im LOK, für den Joanna Havelange trotz fehlender Qualifikation 36.000 Euro monatlich kassiert.
Kleptomanie, Diktatur, Postenschacher
Auf Teixeira folgte Jose Maria Marin – für Juca Kfouri lediglich eine andere Fratze an der Spitze desselben Machtapparats, dem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss schon 2001 bescheinigte, er sei „ein krimineller Ort, in dem Anarchie, Inkompetenz und Verlogenheit herrschen“. „Marin ist ein pathologischer Kleptomane“, sagt Kfouri und bezieht sich dabei nicht nur auf eine Episode aus dem Jahr 2012, als sich der CBF-Präsident vor laufenden Kameras bei einem Nachwuchsturnier eine Siegermedaille in die Hosentasche steckte, statt sie zu überreichen. Seinen Charakter habe Marin schon viel früher offenbart, meint Kfouri und erzählt von einem gemeinsamen Rückflug nach einem WM-Qualifikationsspiel in Bolivien 1985: „Nach einigen Wodkas hat er von seiner zehnmonatigen Amtszeit als Gouverneur von Sao Paulo geschwärmt, als er zehn Prozent aller öffentlichen Aufträge in seine Privattasche umgeleitet hat. Er hat gesagt: ‚Wer ein solches Amt antritt und es nicht als Millionär verlässt, muss ein Dummkopf sein.‘“ Als Marin vor zwei Jahren den Verband übernahm, veröffentlichte Kfouri die Episode noch einmal auf seinem Blog. Eine Unterlassungsklage des CBF-Präsidenten blieb aus.
Doch die Gier nach Macht und Geld ist nicht der einzige Makel in Marins Lebenslauf. Während der von 1965 bis 1984 dauernden Militärdiktatur soll er als Abgeordneter der Regimepartei Arena indirekt in die Ermordung des Journalisten Vladimir Herzog verwickelt gewesen sein. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, einst selbst als Oppositionelle in Haft, macht aus ihrer Abneigung gegenüber dem CBF-Präsidenten keinen Hehl, hat aber auf den Sportverband keinen Einfluss. Für die FIFA hingegen ist Marins politische Vergangenheit mit seiner jetzigen Funktion problemlos vereinbar.
Unfertige Kirche, gewandelter Weltmeister
Enttäuscht ist Juca Kfouri aber auch von Sportminister Aldo Rebelo von der Kommunistischen Partei, der sich in seiner Zeit als Parlamentarier mehrmals gegen die mächtige Fußballlobby gestellt hatte. „Rebelo hat seinen Kredit verspielt“, sagt Kfouri. „Wenn ein Sportminister die Verzögerungen im Stadionbau mit dem Satz abtut, er habe noch nie eine Hochzeit erlebt, wo die Braut pünktlich erschienen ist, kann ich ihm nur antworten: ‚Was hilft es, wenn die Braut pünktlich, aber die Kirche noch nicht fertig ist?‘“
Bernhard Leubolt zeigt Verständnis für Kfouris Kritik, betont aber auch die zahlreichen sozialen Errungenschaften der letzten Jahre. Der Wirtschaftswissenschafter von der WU Wien hat sich in seinen Studien der Regierungspolitik der Arbeiterpartei in Brasilien beschäftigt, er sagt: „Was die Einkommensschere betrifft, ist Brasilien in den letzten zehn Jahren vom Weltmeister der Ungleichheit fast zum Weltmeister der Bekämpfung von Ungleichheit geworden. Das hat den Leuten aber auch klarer gemacht, was noch fehlt.“ Tatsächlich stieg der Mindestlohn in den vergangenen elf Jahren um inflationsbefreite 80 Prozent und es wurden Beihilfen für Arbeitslose und Familien eingeführt. Dazu kommen die Errichtung zahlreicher Universitäten, nicht nur in den großen Ballungsräumen, der Bau von Straßen und Abwassersystemen in den Favelas sowie das größte Wohnbauprogramm weltweit. Die WM scheint jedoch viel davon zu überdecken. „Die Menschen sehen, wie viel Geld für die Stadien ausgegeben wird. Gleichzeitig monopolisiert die FIFA sehr viel von den Gewinnen – etwa beim Verkauf von Getränken und beim Merchandising“, sagt Leubolt. „Da sind die Hoffnungen vieler Menschen enttäuscht worden.“
Lesen Sie den gesamten Artikel in der WM-Ausgabe des ballesterer (Nr. 92 Juni/Juli 2014). Ab 13. Mai österreichweit in den Trafiken sowie im deutschen und Schweizer Bahnhofsbuchhandel!
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