Das Gesicht Roms
Francesco Totti steht für die AS Roma. Seit 21 Jahren lenkt er ihr Spiel und bricht Torrekorde. Er pfeift auf den freien Markt und lebt die römische Gelassenheit. Wenn er seine Karriere beendet, wird das die Stadt in eine Sinnkrise stürzen. (Text: Jakob R
Die Meisterschaft ist entschieden. Der Rückstand auf Juventus beträgt nach 27 Runden bei einem Spiel weniger 14 Punkte, mittlerweile wackelt für die Roma aber auch der zweite Platz, die drittplatzierte SSC Napoli rückt näher. Zuletzt spürte die Mannschaft die Abwesenheit von Francesco Totti. Schon zum zweiten Mal in dieser Saison musste der Kapitän eine Verletzungspause einlegen. Am 17. März feiert er gegen Udinese sein Comeback. Auf dem Weg zum Stadio Olimpico in Rom geht eine Viertelstunde vor Anpfiff ein Raunen durch die Menge, die Fans zücken ihre Smartphones und tuscheln nervös. Napoli hat das Auswärtsspiel gegen Torino mit einem umstrittenen Tor in letzter Minute doch noch gewonnen und ist jetzt punktegleich.
Nicht einmal eine Dreiviertelstunde später hat Francesco Totti den Fans alle Sorgen genommen. In der 21. Minute erzielt er mit einem flachen Schuss knapp innerhalb des Strafraums das 1:0, sieben Minuten später spielt er einen hohen Pass über das halbe Spielfeld auf seinen Sturmkollegen Gervinho, der Mattia Destro das 2:0 auflegt. Die Curva Sud feiert. Nachdem er das Feld beim Spielstand von 3:1 verlassen hat, wird die Begegnung noch einmal eng, Udinese schießt den Anschlusstreffer, drängt aber vergeblich auf den Ausgleich. Bei Tottis Auswechslung erhebt sich das ganze Stadion, die Fans klatschen und singen: „C’e solo un capitano“ – es gibt nur einen Kapitän. Tatsächlich legt Totti seine Kapitänsschleife nie ab. Er spielt mit einer personalisierten Binde, die seinen Namen und die seiner Kinder trägt. Ersatzkapitäne müssen mit einer gewöhnlichen Schleife auskommen.
Trophäe Totti
Totti spielt seine 21. Saison für die AS Roma, seit 16 Jahren ist er ihr Kapitän, keiner traf in der italienischen Nachkriegsgeschichte öfter. Dabei ist Totti gar kein gelernter Stürmer, sondern ein klassischer Spielmacher. Die Geschichte des gebürtigen Römers, der nie ein anderes Trikot als das seines Herzensklubs getragen hat, klingt wie eines der Märchen, die im modernen Fußball immer seltener werden. „Seit Totti ist die Verwendung des Vornamens Francesco bei Neugeborenen in Rom massiv gestiegen“, sagt Luca Valdiserri, Sportredakteur der Tageszeitung Il Corriere della Sera.
„Es wird sogar gewitzelt, dass auch der Papst den Namen gewählt hat, um sich in der Stadt beliebt zu machen.“ „Totti kann einfach alles“, sagt Tonino Cagnucci. „Wenn man eine Schwäche suchen müsste, ist es vielleicht am ehesten das Kopfballspiel, aber auch mit dem Kopf hat er schon einige Tore gemacht.“ Cagnucci ist Redakteur von Il Romanista, einer Tageszeitung, die sich ausschließlich mit der AS Roma beschäftigt. Nach dem Spiel gegen Udinese wird sie Totti eine gesamte Ausgabe widmen. Rom sei die einzige Stadt Italiens, in der eine solche Zeitung genügend Leser finde, sagt Cagnucci. „Der Verein hat zwar wenig gewonnen, dafür ist die Leidenschaft für ihn umso größer. Und wir haben Totti, er wiegt mehr als irgendeine Trophäe.“
Ein Sohn des Volkes
Wenige Bushaltestellen vom Kolosseum entfernt drängen sich außerhalb der antiken Stadtmauern im Stadtteil San Giovanni keine Touristen mehr. Historische Gebäude würden sie hier vergeblich suchen, ein Häuserblock aus den 1960er Jahren reiht sich an den anderen. Die Römer sagen „popolare“ zu einer solchen Gegend. Die wörtliche Übersetzung „volkstümlich“ passt aber nur bedingt für ein Wohnviertel der römischen Mittelschicht. Hier betreibt Giulio Lucarelli in der Via Vetulonia das „Core de Roma“, ein der AS Roma gewidmetes Restaurant. „Es schien mir naheliegend, das Lokal in der Straße zu eröffnen, in der Francesco Totti aufgewachsen ist“, sagt er. Links auf Hausnummer 18 lebte die Familie im ersten Stock, hier hat Totti seine Kindheit und Jugend verbracht. Gleich gegenüber der Volksschule Alessandro Manzoni und dem Fußballplatz der Fortitudo, des Klubs bei dem er seine Fußballerkarriere begann.
„Ich bin ein Sohn des Volkes“, sagte Francesco Totti über sich selbst einmal. Das Volk ist hier in den Innenbezirken Roms mehrheitlich der AS Roma zugetan. Doch innerhalb der Familie war die heute so enge Verbindung zwischen dem Verein und Francesco Totti nicht selbstverständlich. „Mama Fiorella ist Lazio-Anhängerin gewesen, so wie ich“, erzählt Anna Maria Petricone in ihrer Trafik in San Giovanni. Früher war sie Lehrerin, Totti ihr Schüler. Als der Name Totti immer öfter in den Notizbüchern der Spielerbeobachter auftauchte, war auch Lazio an ihm interessiert. Totti selbst und sein Vater waren aber überzeugte Roma-Anhänger, die Mama Fiorella den Wechsel ausreden konnten. So kam der talentierte Bub 1989 im Alter von zwölf Jahren zur Roma, vier Jahre später debütierte er beim Auswärtsspiel in Brescia in der Serie A.
Sinnloses Versteckspiel
Ein steiler Aufstieg für den jungen Totti. Bei seiner ersten Kasernierung konnte er die ganze Nacht nicht schlafen, weil er das Zimmer mit seinem Idol Giuseppe Giannini teilte. „Er war ein sehr schüchterner Bub, wenn er mit Erwachsenen oder in der Klasse sprechen musste – fast so, als sei er gar nicht anwesend“, erinnert sich seine Lehrerin. „Wenn er Fußball gespielt hat, hat sich sein Verhalten komplett verändert, da war er plötzlich ganz extrovertiert. Ich habe ihm immer gesagt: ‚Francesco, rede mit deinen Füßen, das gelingt dir besser.“
In Carlo Mazzone, der im Sommer 1993 das Traineramt übernahm, fand Totti seinen ersten wichtigen Mentor. „Ich habe gar nicht gewusst, wie er heißt, aber bei einem Trainingsspiel mit der Jugendmannschaft ist mir dieser Bub aufgefallen: Er war schnell, hatte eine gute Übersicht, eine großartige Technik, Talent beim Dribbling und einen starken Schuss“, schreibt Mazzone in seiner Autobiografie. „Ich habe meinem Co-Trainer gesagt, er soll ihn sofort in die Kampfmannschaft einberufen, aber gleich drei andere Junge mitnehmen, um die Journalisten zu blenden.“ Totti ließ sich allerdings nicht lange verstecken, mit 18 war er Stammspieler und erzielte seine ersten Tore.
Doch mit dem Abgang Mazzones 1996 schlitterte auch Totti in eine kleine Krise. Der neue Trainer Carlos Bianchi setzte nicht auf das Talent und überlegte gar, Totti zu verleihen. Nach nicht einmal einem Jahr war die Ära des Argentiniers wieder beendet, die Roma konnte den Klassenerhalt erst drei Tage vor Saisonende fixieren. Es folgten Zdenek Zeman und der Durchbruch Tottis. Den ersten Vertrauensbeweis erhielt er schon im Sommer: das Trikot mit der Nummer zehn. Zuletzt hatte es Giuseppe Giannini, ebenfalls ein gebürtiger Römer, getragen, der den Verein im Jahr zuvor nach 15 Saisonen Richtung Graz verlassen hatte. „Sein Trikot hängt in meinem Zimmer“, sagte Totti danach der Presse. „Endlich kann ich die Nummer zehn im Olimpico tragen, anders als früher, als ich damit in die Kurve gegangen bin.“ Dank der harten Vorbereitung Zemans kam Totti auch körperlich besser in Form, im 4-3-3-System des Trainers blühte er als Linksaußen auf. Ein Jahr später, am 31. Oktober 1998, wurde Totti mit knapp 22 Jahren Kapitän.
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SCHWERPUNKT: FRANCESCO TOTTI
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