ballesterer #97: Stand up and sing

Die Premier League ist erfolgreich, die Stadien sind voll, doch unter englischen Fans macht sich Unmut breit: Sie protestieren gegen hohe Ticketpreise, fordern die Rückkehr der Stehplätze und bringen den Ultrasupport des Kontinents auf die Insel. (Text: N


Der englische Fußball ist am Boden. Keiner der Klubs ist im Europacup vertreten. Die Stadien haben einen schlechten Ruf, und die Krise des Sports beschäftigt selbst das Parlament: „Es ist ein dreckiges Spiel, bei dem Rüpel auf dem Platz stehen und Hooligans auf den Tribünen“, erklärt ein Mitglied des Oberhauses. Wenige Wochen später, im April 1989, sterben bei der Stadionkatastrophe von Hillsborough 96 Menschen. Im englischen Fußball sollte danach kein Stein auf dem anderen bleiben.


Heute gilt die Premier League als attraktivste Meisterschaft der Welt: Die Stadien sind voll, die Spielergehälter so hoch wie sonst nirgends, und für Kapitalanleger ist die Liga ein einträgliches Investitionsumfeld. In der Saison 2013/14 wurden umgerechnet knapp zwei Milliarden Euro Fernsehgelder an die 20 Klubs der oberen Spielklasse ausgeschüttet, ein Anstieg von 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der neue, ab 2016 geltende Vertrag soll Medienberichten zufolge fünf Milliarden jährlich einbringen. Anfang Oktober kursieren gar Pläne der Premier-League-Klubs in den Medien, eine Runde der Liga im Ausland auszutragen. In den letzten 25 Jahren ist viel geschehen. Der Preis für die Lösung der Probleme des englischen Fußballs war jedoch hoch: die Zerstörung der Fankultur.


Der große Bruch
Die englischen Klubs der oberen Ligen gehören reichen Männern und Konzernen. Das sei nichts Neues, sagt Martin Cloake. Der Londoner Journalist hat im August mit „Taking Our Ball Back“ eine Sammlung seiner Artikel zur Entwicklung des Fußballs und der Fankultur veröffentlicht. Die Kommerzialisierung präge den Fußball seit Beginn des 20. Jahrhunderts – früher allerdings mit klaren Regeln. „Die Football Association legte 1899 fest, dass die Geschäftsführer kein Geld erhalten, ein Verkauf der Stadien untersagt ist und Gewinne in den Klub investiert werden“, sagt Cloake.


1983 jedoch wurde Tottenham Hotspur mit Erlaubnis des Verbands als erster Klub zu einer Aktiengesellschaft. „Das war der große Bruch.“ Aus Institutionen, die einem sportlichen und sozialen Zweck verpflichtet waren, wurden Unternehmen mit geringem Risiko für die Investoren und hohem für den Verein: Heute schreiben die Besitzer ihre Schulden auf den Klub um; sie spekulieren auf Erlöse, die im schwer berechenbaren Sport ausbleiben; machen Vereinseigentum zu Geld oder betrachten den Klub als Spielzeug. Mehr als 50 Vereine sind in den oberen fünf englischen Ligen seit 1992 in Insolvenz gegangen, einige davon gleich mehrfach.


Die Möglichkeiten der Fans, auf die Führung ihrer Klubs Einfluss zu nehmen, sind begrenzt. „Es gibt keine Mitbestimmungsrechte wie in Mitgliedervereinen“, sagt Ben Shave von „Supporters Direct“. Die im Jahr 2000 von der britischen Regierung ins Leben gerufene Organisation stärkt demokratische Mitbestimmung, zum Beispiel durch „Supporters‘ Trusts“, die inzwischen bei mehr als 100 Klubs existieren und Faninteressen gegenüber der Vereinsführung vertreten. Die Zahl der Klubs, die – meist nach finanziellem Kollaps und in unteren Ligen – von Trusts übernommen und geführt werden, steigt.


Hyperinflation
Auch in anderen Bereichen artikulieren die Fans ihre Interessen immer lauter: Anhänger von Hull City protestierten gegen die geplante Umbenennung ihres Klubs, Fans von Cardiff City gegen die Veränderung von Klubfarben und -wappen. „Es ist wieder eine Art gemeinschaftlicher Kampfgeist spürbar“, sagt Andy Lyons, Chefredakteur des Fußballmagazins When Saturday Comes. Widerstand formiert sich auch über Vereinsgrenzen hinweg. Am letzten Septemberwochenende fand an der Anfield Road das Liverpooler Stadtderby statt. Bereits ein Monat vor der Partie veröffentlichten Liverpools Fangruppe „Spirit Of Shankly“ und Evertons „The Blue Union“ ein gemeinsames Statement: Unter der Überschrift „Die Gier des modernen Fußballs“ forderten sie ihre Vereine zu einer Senkung der Derbypreise für Auswärtsfans auf – vergeblich.


Am Spieltag versammelten sich die Fans zu einer Kundgebung vor der Liverpooler Filiale der Barclays-Bank, dem Namenssponsor der Premier League. Die Überwindung von Rivalität für ein gemeinsames Ziel sei wichtig, sagt Paul Gardner von „Spirit of Shankly“: „Wir können viel mehr Druck auf die Verantwortlichen ausüben, wenn wir nicht gegeneinander ausgespielt werden können.“


Die Proteste der Liverpooler Fans sind nur ein Beispiel in einer Reihe von Kampagnen gegen die hohen Ticketpreise. Die im Oktober veröffentlichten Zahlen einer BBC-Studie geben dem Anliegen zusätzliche Nahrung: Seit 2011 ist der durchschnittliche Preis für die billigste Matchkarte in den oberen vier Ligen um 13 Prozent gestiegen und damit doppelt so stark wie die Inflation im gleichen Zeitraum. Immer mehr Anhänger können sich den Fußball schlicht nicht mehr leisten.


Im Jänner 2013 war Manchester City gezwungen, ein Drittel seiner zugeteilten 3.000 Eintrittskarten für das Auswärtsspiel bei Arsenal wieder zurückzugeben – die Fans wollten den Rekordpreis von umgerechnet 78 Euro nicht zahlen. Die landesweite Fanorganisation „Football Supporters’ Federation“, FSF, startete kurz darauf die Kampagne „Twenty’s plenty“ für eine Begrenzung der Preise von Auswärtstickets auf 20 Pfund. Im Juni 2013 organsierte „Spirit of Shankly“ in London einen Protestmarsch zum Hauptsitz der Premier League und der für die zweite bis vierte Liga zuständigen Football League. Mehrere hundert Fans von rund 20 Klubs nahmen daran teil. Die Demonstration sorgte nicht nur in den Medien für Aufmerksamkeit – nach Gesprächen mit Fanvertretern verkündete die Premier League wenige Wochen später die Einrichtung eines Fonds für Auswärtsfans, die mit 250.000 Euro pro Verein und Saison unterstützt werden sollen.


Die Klubs setzen das Geld unterschiedlich ein, manche finanzieren Busfahrten, andere bieten ermäßigte Karten für ausgewählte Partien an oder Gutscheine für die Stadiongastronomie. Ein weiteres Modell sind wechselseitige Rabatte bei bestimmten Gegnern. So verkauft Everton Auswärtstickets für die Spiele gegen Newcastle und Swansea zu günstigeren Preisen, umgekehrt müssen Newcastle- und Swansea-Fans bei ihren Matches im Goodison Park weniger zahlen.


Verlorene Generation
Die Fans haben also kleine Erfolge erreicht, insgesamt steigen die Preise jedoch weiter an. Ein zweiter Protestmarsch in diesem August brachte keine Resultate. Klubs und Liga würden sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, schreiben die Fangruppen aus Liverpool. Der Handlungsdruck ist gering: Die Spieltagserlöse aus Tickets, Fanshop und Gastronomie machen durchschnittlich nur ein Viertel der Gesamteinnahmen der Premier-League-Klubs aus, obwohl die Auslastung der Stadien in der vergangenen Saison zwischen 90 und 100 Prozent lag.


Für Dauerkarten gibt es auch bei Preisen ab 1.200 Euro pro Saison wie bei Arsenal Wartelisten. Fans sollten sich ihrer Kaufkraft bewusst werden, sagt Liverpool-Fan Gardner: „Alle Einnahmen kommen direkt oder indirekt von den Fans. Das Fernsehgeld kommt aus den Verträgen, die wir abschließen. Sponsoren werben, damit wir ihre Produkte kaufen. Die Fans müssen erkennen, wie viel Macht sie haben.“


Der Anstieg der Ticketpreise und der Fußballboom der vergangenen Jahrzehnte haben ihre Wirkung entfaltet. Klubstatistiken, die der Guardian zusammengetragen hat, illustrieren diese Entwicklung: 1968 waren die Zuschauer von Manchester United auf der damaligen Stehplatztribüne Stretford End durchschnittlich 17 Jahre alt, 2008 über 40. Bei Newcastle United lag das Durchschnittsalter im Jahr 2002 bei 35, zehn Jahre später bei 45. Der durchschnittliche Besucher in der Premier League ist heute 41 Jahre alt – der englische Fußball hat eine Generation von jüngeren Fans verloren.


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