Brasilien baut um

500 Tage vor Beginn der WM gleicht Brasilien einer Großbaustelle.­ Stadien werden hochgezogen, Flughäfen ausgebaut, Straßen aufgerissen. Doch an den schlechten Lebensumständen für weite Teile der Bevölkerung ändert sich wenig. Und auch die Fankultur kämpf

 

cover 79„Ende Februar soll es fertig sein." Der Taxifahrer, der mich zur Arena Fonte Nova – unweit des Zentrums von Salvador – chauffiert, klingt nicht gerade überzeugt. „Aber bis zum ersten Spiel werden sie es schon schaffen." Das erste Match im neuen Wahrzeichen der Drei-Millionen-Einwohner-Metropole an der Nordküste Brasiliens ist für 31. März angesetzt und den beiden lokalen Erstligaklubs, dem EC Bahia und Vitoria, vorbehalten.


Fünf Wochen vor der geplanten Fertigstellung herrscht Baustellenatmosphäre rund um die Arena. Das Stadion ist in Gerüste gehüllt, rundherum klaffen riesige Baugruben. Eine Parkgarage und ein Fußgängerübergang entstehen an der angrenzenden Straße. Sechs Spuren wird sie nach Beendigung der Arbeiten haben. Aktuell sind es zwei, was selbst Samstagfrüh zu einem gröberen Stau führt, der den Taxifahrer jedoch nicht einmal mit der Wimper zucken lässt. Der Mann ist ganz andere Blechlawinen gewohnt.

 

Hochbetrieb im Hufeisen
Bei der Stadionführung für ein Dutzend Journalisten wird Zuversicht versprüht und die soziale Komponente des Megaprojekts betont. In einem Werbevideo zu Beginn der Tour kommen vormals obdachlose Arbeiter zu Wort, die dank des WM-Stadions nun einen Job und ein Dach über dem Kopf haben. Rund 100 Hilfskräfte profitierten von dem Sozialprogramm. Insgesamt werken 4.000 Arbeiter in drei Schichten rund um die Uhr an der Fertigstellung der Arena für 50.000 Zuschauer, in der drei Spiele des Confederations Cups und sechs WM-Partien stattfinden werden. Nach Verzögerungen in der ersten Jahreshälfte 2012 hatte die FIFA gedroht, Salvador die Spiele der WM-Generalprobe im Juni zu entziehen. Zusätzliche öffentliche Investitionen halfen jedoch dabei, den Rückstand wieder aufzuholen. Im November wurde der Spielort vom Weltverband bestätigt. Schneller sind die Stadionbauten für die zweite WM in Brasilien nach 1950 nur in Fortaleza und Belo Horizonte vorangeschritten, die bereits eröffnet wurden.


In Gummistiefeln und mit Bauhelmen geht es hinein in die Arena. Dort herrscht Hochbetrieb auf mehreren Ebenen. Kräne schaffen Materialien heran, Sitzschalen und Logenfenster werden montiert, ein paar Stockwerke höher sind Arbeiter mit der Fertigstellung der ultraleichten Dachkonstruktion beschäftigt. Gebaut wird nach deutschen Plänen. Das Braunschweiger Architekturbüro Schulitz + Partner konnte 2008 die Ausschreibung für das mit 240 Millionen Euro veranschlagte Projekt für sich entscheiden. Ein Jahr davor waren beim Einsturz einer Tribüne des alten Fonte Nova acht Menschen ums Leben gekommen. Die Stadt hatte sich daraufhin für Abriss und Neubau entschieden.


Wie sein Vorgänger weist auch das WM-Stadion eine Hufeisenform auf. Eine rund 50 Meter breite Lücke in der Südkurve gibt den Blick auf die angrenzende Lagune frei. „Die Öffnung folgt einer brasilianischen Tradition im Stadionbau", sagt Architekt Claas Schulitz. „Sie dient der Ventilation im Inneren, außerdem kann die Fläche für andere Veranstaltungen genutzt werden." Auch bei deren Organisation setzt Salvador auf internationales Know-how. In der Betreibergesellschaft FNP haben Manager der Amsterdam Arena das Sagen. Im Gegensatz zum alten städtischen Stadion ist das neue Fonte Nova als Private-Public-Partnership konzipiert, was eine stärkere kommerzielle Ausrichtung nach sich ziehen wird. Erste Anzeichen dafür sind bereits spürbar: Gab es vorher noch Laufbahnen, ein Schwimmbad und weitere Trainingsgelände für den Amateur- und Schulsport, fallen diese Elemente mit dem Neubau weg.

 

Feiertag statt U-Bahn
Die Stadionführung endet aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in einem Schweißausbruch, der jedem der Bauarbeiter Ehre machen würde. Draußen vor der Baustelle fällt mein Blick auf eine U-Bahn-Station. Die Tore sind verriegelt, die Gleise verwaist – und daran wird sich auch bis zum Anpfiff der WM am 12. Juni 2014 nichts ändern. Das U-Bahn-Projekt in der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens ist ein Kapitel der Stadtgeschichte, über das die Verantwortlichen am liebsten den Mantel des Schweigens breiten würden. 1999 wurde mit dem Bau begonnen, doch von den geplanten zwei Linien mit einer Länge von 48 Kilometern konnte bisher nur ein sechs Kilometer langes Teilstück in Betrieb genommen werden. 2008 wurden sechs Zuggarnituren angeschafft, die seither in den Remisen auf eine Erweiterung des Netzes warten. Glaubt man Kritikern des Projekts, ist ein Teil davon mittlerweile unbrauchbar.


„In Hinblick auf den öffentlichen Verkehr hinken wir in Salvador dramatisch hinterher, und es gibt keine Anzeichen für eine Veränderung", sagt Argemiro Ferreira de Almeida, Mitbegründer des lokalen Bürgerkomitees, wie es sie in allen zwölf WM-Austragungsorten gibt. Dass der Bürgermeister aus Angst vor einem Verkehrskollaps alle Spieltage in Salvador zu Feiertagen erklären will, hält Almeida für einen Offenbarungseid: „Eine Drei-Millionen-Stadt wegen eines 90-minütigen Spiels für 24 Stunden zu paralysieren ist blamabel. Die Stadtverwaltung gesteht sich damit ein, dass der Zustrom an Besuchern zusammen mit dem Alltagsverkehr zum Chaos führen wird."


Mit dem Stadionbau einher ging eine Aufwertung des Wohnviertels rund um Fonte Nova. Prostituierte wurden bereits an den Stadtrand verdrängt. Lokalen Händlern und Schnellimbissverkäufern dürfte während der WM und des Confed-Cups ein ähnliches Schicksal drohen. Schließlich könnten sie den FIFA-Sponsoren Konkurrenz machen. Im Umfeld des Stadions ist ihnen jegliche Werbemöglichkeit verboten. „Absiedlungen von Bewohnern hat es zum Glück noch nicht gegeben", sagt Almeida. Die Gefahr sei aber noch nicht gebannt. Denn es sind zwei Einkaufszentren und eine weitere Zufahrtsstraße geplant, was zu Häuserabrissen führen könne.


„Die Regierung ist sehr darum bemüht, der Welt ein Postkartenmotiv von Brasilien zu präsentieren", sagt der Bürgerrechtler, der im Jänner auf Einladung der Katholischen Jungschar in Wien zu Gast war. Von den rund elf Milliarden Euro, die anlässlich des Großereignisses in die Infrastruktur investiert werden, wird laut Almeida nur sehr wenig bei der Bevölkerung ankommen: „Wir erwarten keine Verbesserung des Gesundheitswesens, wo viele Ärzte in den öffentlichen Spitälern nicht zum Dienst erscheinen, und des zurückgebliebenen Schulsystems, das die Armen benachteiligt und die Reichen mit Gratisstudien an den besten Universitäten zusätzlich fördert."

 

Den gesamten Artikel gibt es in der aktuellen Printausgabe des ballesterer (Nr. 79, März 2013) – Seit 13.2. österreichweit in den Trafiken sowie im deutschen und Schweizer Bahnhofsbuchhandel!

 


Inhalte des ballesterer (www.ballesterer.at) Nr. 79 (März 2013) – Seit 13.2. im Zeitschriftenhandel!

 

SCHWERPUNKT: BRASILIEN

 

WM-BAUSTELLEN

Brasilien 500 Tage vor Anpfiff der Copa 2014, eine Reportage aus Rio und Salvador

http://ballesterer.at/heft/thema/brasilien-baut-um.html

 

UNAUFHALTSAME MODERNISIERUNG

Journalist Paulo Vinicius de Mello Coelho über eine Liga im Wandel und den neuen alten Teamchef Felipe Scolari

http://derstandard.at/1360681331310/Scolari-war-eine-politische-Entscheidung

 

MEHR ALS FOLKLORE

Die Spiele der indigenen Völker Brasiliens

 

NAH DRAN UND EINDRUCKSVOLL

Die Kurvenporträts von Fotograf Gabriel Uchida

 

ALS ÖSTERREICH NOCH BRASILIANISCH SPIELTE

Gefühlter Sieg im Freundschaftsspiel 1971

 

 

Außerdem im neuen ballesterer:

 

KAMPF UM DEN PROFIFUSSBALL

Ein Ausblick auf das Regionalliga-Frühjahr

http://ballesterer.at/heft/weitere-artikel/aufstieg-der-kleinen.html

 

RITZINGER RÄTSEL

Eigenartige Finanzkonstruktionen im Mittelburgenland

 

»ES GEHT UM WAFFENGLEICHHEIT«

Drei Juristen erklären, warum immer mehr Fans Anwälte brauchen

http://ballesterer.at/heft/weitere-artikel/es-geht-um-waffengleichheit.html

 

DOPING IM FUSSBALL

Journalist Daniel Drepper im Interview

 

ABSCHIED EINES ÜBERLEBENDEN

Erinnerungen an Israels einzigen WM-Trainer Emanuel Schaffer

http://ballesterer.at/heft/weitere-artikel/abschied-eines-ueberlebenden.html

 

PRESSECORNER

Bedrohliche Admira-Fans und andere Schauermärchen

http://ballesterer.at/heft/serien/es-war-einmal.html

 

TAKTIK TOTAL

Der Kreativspieler

 

ARMER ASHLEY

Clemens Berger ist der »13. Mann«

http://ballesterer.at/heft/serien/armer-ashley.html

 

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, Italien und Spanien

http://ballesterer.at/heft/groundhopping/fc-st-pauli-erzgebirge-aue.html