DFB-Chefscout Urs Siegenthaler: "Es geht darum, zu sagen, wo der Gegner, dass wir unsere Schwächen haben"
Urs Siegenthaler beobachtet seit 2005 für den DFB Spiele, Gegner und Talente. Im Interview mit der Berliner Morgenpost spricht er über die WM in Russland, radikale Ansätze im Fußball und planbare Angriffe gegen Mannschaften, die den Sechzehner zustellen.
DFB-Chefscout Urs Siegenthaler im Interview mit der Berliner Morgenpost über ...
... die Weltmeisterschaft 2018 in Russland:
"Unter den letzten Acht werden mit Gottes Fügung wir sein, außerdem Brasilien, Argentinien, England, Frankreich, Spanien und Belgien. Und dann wird es ein Überraschungsteam geben. Vielleicht Polen, vielleicht die Schweiz, und nicht zu vergessen Portugal. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir die Gejagten sind. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Das Wild im Wald hat nur eine Chance: Wenn es weiß, wo der Jäger ist und was er macht. Wir müssen uns also fragen: Wie gut sind die Jäger und was machen sie? Wenn ich weiß, wo der Jäger mich hintreiben will, finde ich auch eine Lösung, das zu verhindern. Es geht nicht darum, zu sagen, wo der Gegner seine Schwächen hat. Sondern wo er glaubt, dass wir unsere Schwächen haben. Das heißt: Auswege suchen. Vielleicht mal dort durchgehen, wo der Jäger nie erwartet, dass wir durchgehen."
Es gibt eine Studie mit Cristiano Ronaldo. Da werden Eckbälle zu ihm vor das Tor geschlagen. Kurz nach Ausführen der Ecke wird das Licht ausgemacht. Ronaldo trifft trotzdem acht von zehn Bällen.
... radikale Ansätze:
"Es gibt eine Studie mit Cristiano Ronaldo. Da werden Eckbälle zu ihm vor das Tor geschlagen. Kurz nach Ausführen der Ecke wird das Licht ausgemacht. Ronaldo trifft trotzdem acht von zehn Bällen. Ein Durchschnittsspieler aber höchstens zwei. Oder nehmen wir wieder Roger Federer. Er sagt: Allein die Haltung des Schlägers beim Gegner zeige ihm, wohin der Ball kommen wird. Nur so habe er überhaupt eine Chance, den Ball zu bekommen. Und das kann man trainieren, indem man zum Beispiel beim Training ein Auge abklebt. Dann ist das periphere Sehen dahin. Ich muss mich immer komplett drehen, um zu sehen, wo ich bin. Wenn Sie das vier Wochen lang machen, verbessern Sie die Vororientierung Ihrer Spieler, weil die sich schon vorher umschauen, wo sie sind und wo das Tor ist. Nehmen Sie Xavi in seiner Hochzeit bei Barcelona. Der war nie unter Druck, weil er die Situation schon früh erkannt hat und sich in eine Position brachte, in der er nicht unter Gegnerdruck kam."
... die Planung von Angriffen:
"Das sind auch Fragen, mit denen sich gerade Oliver Bierhoff in der DFB-Akademie beschäftigt. Was sind die Trends, wohin entwickeln wir den Fußball? Wir schauen viel auf andere Sportarten. Dort erleben wir, dass die Spieler in gewissen Situationen exakt wissen, was zu tun ist. Ich glaube, dass im Fußball generell oft noch viel aus der Intuition passiert. Kreativität entsteht erst durch Ordnung. Wenn der Sechzehnmeterraum voll von Abwehrspielern ist, dann muss ich einen Plan entwickeln, wie ich dort überhaupt noch hindurch komme. Durchgeplante Angriffe könnten eine Lösung sein. Ich könnte mir vorstellen, dass an der Art, wie ein Angriff zu Ende gespielt wird, die Möglichkeit für die nächste große Veränderung im Fußball liegt. Da geht es um die Planbarkeit von Angriffen. Schauen wir zu anderen Sportarten. Jeder Billardspieler muss mehrere Spielzüge im Vorhinein durchdenken. Oder nehmen Sie Blitzschach: Wenn der Blitzschachspieler nicht schon vor dem Zug die nächsten im Kopf hat, verliert er."
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