Die blau-weiße Invasion

Zehntausende argentinische Fans tauchten Rio rund um das Match gegen Bosnien in ihre Farben. Ein legendäres Match blieb ihnen beim ersten WM-Match im Maracanã seit 64 Jahren jedoch verwehrt. Von Reinhard Krennhuber aus Rio de Janeiro (Text, Fotos und Vide

 

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Vordergründig ist es ein ganz normaler Sonntag in der Copacabana. Die sechsspurige Avenida Atlantica direkt am Meer ist für Autos nur in eine Richtung befahrbar, der andere Fahrstreifen bleibt an diesem Tag traditionell den Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Der Strand ist rappelvoll. Von der Fanzone dringt ein Raunen herüber, das im späten Siegestor der Schweizer über Ecuador begründet ist. Die argentinischen Fans machen sich derweil auf in die andere Richtung, um die U-Bahn in Richtung Maracanã zu entern.

 



 

75.000 argentinische Fans in Rio

Von überall sind sie gekommen in den vergangenen Tagen, um Rios berühmtes Strandviertel in ihre blau-weißen Farben zu hüllen: aus Buenos Aires, Mendoza, La Plata und sogar aus Ushuaia ganz im Süden Argentiniens, von wo man eine ähnlich weite Anreise wie aus Europa hat. Laut Angaben des Fußballmagazins „El Grafico" befinden sich mehr argentinische Fans in der Stadt als das Maracanã Fassungsvermögen hat. Auch wenn das Stadion, das einst mehr als 200.000 Menschen fasste, durch diverse Umbauten einiges an Größe eingebüßt hat, sind das immer noch bemerkenswerte 75.000, die den Bars, Restaurants und Supermärkten Rios einen Riesenumsatz bescheren. Zu Auseinandersetzungen mit Brasilianer oder der Polizei ist es abgesehen von ein paar kleineren Scharmützeln bisher nicht gekommen.

 

An der U-Bahnstation Cardeal Arcoverde wird das Ausmaß der Faninvasion rund drei Stunden vor Anpfiff der Partie gut sichtbar. Die Argentinier werden von den Ordnungshütern nur in kleinen Gruppen in die Station gelassen, die Wartenden vertreiben sich die Zeit mit Gesängen und schütteln dazu ihre Gliedmaßen. Für den großen Auftritt in Rio haben sie sich sogar ein neues Lied einfallen lassen: Es handelt vom Aufeinandertreffen mit Brasilien bei der WM 1990, das mit einem 1:0 für die „Albiceleste" endete, und davon, dass Maradona und Messi immer schon besser waren als Pelé und Neymar. Die Rivalität zu den Gastgebern ist auch abseits dessen spürbar. In der U-Bahn verbrüdern sich Brasilianer demonstrativ mit den kleinen bosnischen Fangruppen. Zwei Fluminense-Fans finden es gar nicht lustig, als sich ein „Gaucho" über den Laufstil von Brasiliens Stürmer Fred lustig macht.

 

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(Foto: Reinhard Krennhuber)

 

Argentinische Extra-Applaus für das Maracanã

In einer guten halben Stunde bringt das öffentliche Verkehrsmittel Argentinier und Brasilianer von der Copacabana direkt ans Maracanã. Als der Zug vor der letzten Station das Stadion passiert, verlagert sich der Schwerpunkt schlagartig auf die linke Seite. Die Fans kleben förmlich an den Fenstern, um einen Blick auf das für fast 400 Millionen Euro komplett umgebaute Stadion zu erhaschen. Das Maracanã bekommt auch von den Argentiniern einen Extraapplaus. Nach dem Aussteigen steht die Menschenmasse. Wenige Meter außerhalb der Station kontrolliert die brasilianische Polizei noch auf der Brücke zum Stadion die Tickets. Nur wer eines vorweisen kann, darf passieren, was in einer Schieberei mündet, die einigen Fans den Schweiß auf die Stirn treibt.

 


[WM-BLOG] [ARGENTINIEN-FANS] [15-06] from tipp3 on Vimeo.


90minuten.at-CR Michael Fiala und ballesterer-Chefreporter Reinhard Krennhuber berichten auch für teamchef.tipp3.at zur WM 2014. Dieses Video und andere interessante Artikel sind auf teamchef.tipp3.at zu finden

 

Hinter dem Nadelöhr ist die Stimmung bedeutend besser. Auch hier mischen sich Brasilianer, Argentinier und Bosnier zunächst, ohne dass es zu Reibereien kommt. Ein argentinischer Fan bearbeitet mit einem Schnitzmesser einen Holzpflock, aus dem ein WM-Pokal entstehen soll. „Bis zum Finale ist er fertig", meint er, als eine Spezialeinheit der Polizei vorbeizieht. Die Einsatzkräfte bewegen sich zum anderen Ende des Stadions, wo es zu einer Auseinandersetzung zwischen Fans der argentinischen Vereine Velez Sarsfield und Chacarita gekommen ist – vermutlich im Zusammenhang mit den Schwarzmarktdeals, bei denen die organisierten Fangruppen mitmischen. Pfefferspray und Schlagstöcke kommen zum Einsatz. Ein paar Straßenzüge weiter beschäftigen einige hundert WM-Gegner die Sicherheitskräfte. Auch hier gibt es Auseinandersetzungen, bei denen ein Journalist durch eine Trängengasgranate verletzt wird.

 

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Zumindest für einen argentinischen Fan war das Spiel zum Einschlafen

 

Heimspielatmosphäre

Im Stadion ist von dieser Aufregung wenig zu spüren. Mindestens 30.000 Argentinier sorgen für Heimspielatmosphäre in Rio. Bei der Hymne und in den ersten Minuten des Spiels wird die großartige Akustik des neuen Maracanã spürbar. Die Argentinier feiern ihre Mannschaft und das frühe 1:0 durch das Eigentor von Haris Seferovic, die zahlreichen brasilianischen Fans halten mit eigenen Gesängen und „Bosnia"-Sprechchören dagegen. Mit Fortdauer des auf sehr mäßigem Niveau befindlichen Spiels schläft jedoch auch die Stimmung unter den 75.000 zunehmend ein. Eine Party lebt eben nicht nur von der Musik, sondern auch von der guten Laune ihrer Protagonisten – und da lassen der nicht völlig auf der Höhe befindliche Lionel Messi und seine Kollegen an diesem Tag einige Wünschen offen.

 

Und so kann man es dem argentinischen Fan in der Kurve nicht verübeln, dass er bei seinem WM-Debüt eingeschlafen ist. Eine knappe halbe Stunde nach Abpfiff schnarcht der Mann im Messi-Dress im sich leerenden Stadion friedlich in seinem Schalensitz vor sich hin. Ein paar Brasilianer treiben ihre Scherze und schießen ein paar Fotos für Facebook. Denn eine Gelegenheit auf ein Wiedersehen der beiden großen südamerikanischen Rivalen wird es – wenn überhaupt – erst im Finale geben.

 


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