Martin Scherb zum Finaleinzug der Spanier: 'Alonso und Ramos mussten auf die Classico-Körpersprache zurückgreifen'

90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb hat wieder ganz genau hingeschaut. Er erklärt ausführlich, wie den Spaniern defensiv beizukommen ist, meint, dass die Real Madrid-Akteure bei Spanien ihr Classico-Gesicht richtigerweise auspackten und erzählt, was Tra

scherbporvsesp90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb hat wieder ganz genau hingeschaut. Er erklärt ausführlich, wie den Spaniern defensiv beizukommen ist, meint, dass die Real Madrid-Akteure bei Spanien ihr Classico-Gesicht richtigerweise auspackten und erzählt, was Trainer so machen, wenn ein Spiel sehr lange dauert. Darüber hinaus hat er ein Schmankerl über Alvaro Negredo parat...


Spanien überrascht mit Negredo

Kein Fernando Torres, kein Cesc Fabregas und auch kein Fernando Llorente – Vicente Del Bosque überraschte mit der Aufstellung des 26-jährigen Alvaro Negredo vom FC Sevilla. Mit einem Augenzwinkern merkt Scherb an: „Ich glaube, del Bosque war beleidigt, weil die Aufstellungen ohne „echten" Stürmer kritisiert wurden und hat dann den schwächsten aufgestellt, um der Fußballwelt zu zeigen: "Seht her, mit einem Stoßstürmer vorne können wir unser Spiel nicht aufziehen." Negredo, der in seinem zwölften Nationalmannschaftseinsatz ausgerechnet das EM-Halbfinale entscheiden hätte können oder sollen, war allerdings nicht immer der Nervenstärkste. „Daniel Segovia (Spieler beim SKN St. Pölten, Anm.) hat mit Negredo im Nachwuchs gemeinsam gespielt und dann auch noch ein Jahr bei Rayo Vallecano. Er hat mir gestern erzählt, dass Negredo von klein auf immer dann schlecht spielte, wenn von ihm viel erwartet wurde." Warum er also statt einem der Eingangs erwähnten auflief, wird Del Bosques Geheimnis bleiben – gut spielte er nämlich nicht.


Portugal exerziert Kompaktheit vor

Portugal hat gezeigt, wie man gegen Spanien taktisch spielen muss. Dabei war nicht das System entscheidend, sondern die Spielanlage", analysiert Scherb die Kompaktheit der Portugiesen und geht noch in die Tiefe, „In der Defensive waren sie variabel, ein 4-3-3, ein 4-1-4-1 oder auch ein 4-2-3-1 waren erkennbar. Die Portugiesen attackierten den ballführenden Spanier im Mittelfeld teilweise sehr hoch, bildeten dahinter immer ein Dreieck, verhinderten dadurch sehr viele vertikale Pässe ins Zentrum." Zusätzlich zum Druck, unter dem Negredo stand, hatte er auch noch durch die Spielanlage von Pepe und Co. wenig Raum, denn „ein Innenverteidiger schob immer hoch auf Negredo raus, der dadurch nicht in der Lage war, sich im Strafraum zu positionieren."


Die Offensive dadurch gefährlich

Durch die Kompaktheit fanden die Spanier kaum ein Mittel gegen das Nachbarland: „Spanien hatte dann zwar das Spiel auf der Seite, aber fast nie Überzahl mit aufrückenden Außenverteidigern und konnte, auf Grund der verwaisten Stürmerposition, auch kaum Flanken oder Querpässe in den Strafraum spielen." Die Marschrichtung Portugals in der Offensive kann mit Kontern beschrieben werden, aber auch die Außenverteidiger, die für modernes Spiel unerlässlich sind, schalteten sich ein, wenn es Zeit gab. „Sie waren gegen den Favoriten auf Augenhöhe, ließen kaum etwas zu und hatten durchaus auch ihre Möglichkeiten. Die offensive Spielanlage war auf Konter ausgerichtet, da waren die Möglichkeiten nachzurücken beschränkt. Und wenn sie es mit kontinuierlichem Spielaufbau versuchten, war Contreau auf der linken Seite sehr oft dabei."


Das richtige Maß an Aggressivität

Die Portugiesen fanden auch das richtige Maß an Aggressivität, die den Spaniern nicht behagte", so der Coach. Die Reaktion des Favoriten blieb aber nicht aus: „Xabi Alonso oder auch Sergio Ramos, die in der Nationalmannschaft meistens ruhig und abgeklärt wirken, mussten gestern auf die Körpersprache der Classicos der letzten Zeit zurückgreifen." Reklamieren und Gegenspieler auflaufen lassen waren „ein klares Signal, dass sie mit dem Spielverlauf nicht zufrieden waren."


Portugal gegen Ende müde

In der ersten Halbzeit präsentierten sich Ronaldo und Co. deutlich initiativer beim Pressing, „das ständige , sehr disziplinierte Attackieren kostete viel Kraft." Mit Fortdauer des Spiels ließ das nach, in der Verlängerung drückten die Spanier das Gaspedal noch einmal ordentlich durch, Rui Patricio musste allerdings in der 104. Minute das erste Mal entscheidend eingreifen. „Spanien spürte in der Verlängerung, dass Portugal müde war, wusste, dass sehr viele Defensivspieler mit Gelb belastet waren und wollte in der Verlängerung die Entscheidung herbeiführen." Der Trainer selbst muss bei einer Verlängerung behutsam vorgehen: „Falls es taktisch oder personell was zu ändern gibt, dann machst du das. Entscheidend ist in einer solchen außergewöhnlichen Situation, die Spieler zu bestärken, ihnen Mut zu zusprechen und auch einen gewissen Pathos zu bemühen um die Besonderheit dieser Situation zu beschreiben."


Portugal als Lehrbeispiel, Spanien muss sich verändern

Martin Scherb zieht ein positives Fazit für die Portugiesen, deren Ausscheiden er schon geahnt hatte: „Portugal kann sich erhobenen Hauptes von dieser EM verabschieden, Bentos Spielanlage wird in der nächsten Zeit als Lehrbeispiel dienen, wie man  gegen dominanten Spanier bestehen kann." Die Finalisten wiederum müssen sich seiner Ansicht nach verändern. „Die Qualität dieser Mannschaft ist nach wie vor sehr hoch, mein Eindruck ist aber, dass sie keinen Plan B haben, auf den sie zurückgreifen können, wenn ein Gegner hoch und geschickt verteidigt und das Zentrum auf Kosten der Außenpositionen gut zustellt", so Scherb. „Unabhängig vom Ausgang dieser EM wird die spanische Nationalmannschaft gezwungen sein, ihr Spiel zu ergänzen, wenn sie mittelfristig weiter eine dominante Rolle im Weltfußball spielen wollen."

Martin Scherb ist Trainer des SKN St. Pölten und analysiert exklusiv auf 90minuten.at ausgewählte EM-Spiele. Dabei nimmt er Stellung zur Taktik, strittigen Szenen und bewertet die Spiele aus der Sicht eines Fußballtrainers.

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