Martin Scherb über Italiens Sieg: ‚Geht Deutschland in Führung, sprechen wir heute darüber, was Italien falsch gemacht hat'
90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb analysiert das bittere Ausscheiden der Deutschen. Er beschreibt die Fehler bei den Gegentoren, bemängelt die Abwesenheit eines Plan B und macht Deutschland Mut für die Zukunft. Löws Umstellungen Gegenüber dem Viertel
90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb analysiert das bittere Ausscheiden der Deutschen. Er beschreibt die Fehler bei den Gegentoren, bemängelt die Abwesenheit eines Plan B und macht Deutschland Mut für die Zukunft.
Löws Umstellungen
Gegenüber dem Viertelfinalspiel gegen Griechenland veränderte Joachim Löw sein Team wieder - Mario Gomez, Toni Kroos und Lukas Podolski begannen. Hierbei weist Martin Scherb auf die Kurzlebigkeit des Geschäfts hin: „Die Frage, ob die Umstellungen gut waren, wurde nach dem Viertelfinale mit einem lautem ‚Ja!!' beantwortet. Ich bin mir aber sicher, dass Löw und sein Trainerteam viele Überlegungen angestellt haben und sich dann für die, aus ihrer Sicht, richtigen elf Spieler entscheiden haben." Einen Kritikpunkt gibt es dennoch, denn „aus meiner Sicht war einzig Podolskis Nominierung hinterfragenswert, er konnte in den vorangegangenen Spielen bis auf das eine Tor keine entscheidenden Impulse setzen und wirkte auch wie ein Fremdkörper, dem die Spritzigkeit und Dynamik total fehlte."
Balotellis Tore
„Beide Tore entstanden durch individuelle Fehler", stellt der St. Pölten-Coach fest. „Beim 1:0 war beim langen Pass von Pirlo die Aufteilung in der Tiefe schlecht, dann kommt ein Spieler von der Seite frontal auf die Verteidiger zu - der entscheidende Fehler passierte in der zwei zu eins Überzahl von Hummels und Boateng gegen Cassano." Holger Badstuber, der Mario Balotelli bewachte, trifft aus Scherbs Sicht keine Schuld, denn „eine Flanke von der Grundlinie, ein beweglicher Stürmer, der erst einen Schritt nach vorne geht und sich aus dieser Bewegung nach hinten absetzt" sei kaum zu verteidigen. Beim 1:0 waren es Boateng und Hummels, die patzten. Beim zweiten machte Philipp Lahm den entscheidenden Fehler in einer Kette: „Das Mittelfeld konnte keinen Druck auf Montolivo aufbauen und den langen Ball auf Balotelli verhindern. Da hätten sich Lahm und der zweite Verteidiger nach hinten absetzen müssen, anstatt unkoordiniert auf Abseits zu spielen."
Italien sehr clever
Die „Squadra Azzurra" agierte sehr clever: „Italien hat als Mannschaft trichterförmig verteidigt, die ballferne Seite rückte dazu extrem ein, sodass das deutsche Team überhaupt nicht auf die Grundlinie gekommen ist. Dadurch mussten sie viele Flanken aus dem Halbfeld schlagen, die dann entweder schlecht ausgeführt wurden oder durch die drei-zu-eins-Überzahl der italienischen Verteidiger leichte Beute waren." Die Nominierung von Özil und Kroos hätte ein Übergewicht in der Mitte bringen sollen, allerdings war der Gegner „darauf gut vorbereitet und auch sehr variabel, ähnlich wie bei den Portugiesen änderte sich das defensive Spielsystem in verschiedenen Spielsituationen.", analysiert Scherb und zieht eine Parallele zu Ronaldo und Co., sieht aber auch einen Unterschied, denn „bei Portugal war es das Mittelfeld, bei Italien die letzte Verteidigungsreihe, die zwischen einer Dreier- und einer Viererkette je nach Situation wechselte." So entschärften beide Teams den spielerisch überlegenen Gegner.
Reus brachte Schwung
Die Anfangsviertelstunde der zweiten Halbzeit gehörte den Deutschen. „Reus, der unmittelbar nach der Pause für frischen Wind sorgte, konnte durch seine tollen Fähigkeiten im offensiven eins gegen eins in den vorher verwaisten Raum bis zur Grundlinie vorstoßen oder zur Mitte ziehen und sorgte dort für große Torgefahr." Um die 60. Minute herum hatte sich die italienische Mannschaft aber auch darauf eingestellt. Die Vermutung, dass nun ein dreckigeres Spiel von Nöten gewesen wäre, wischt Scherb weg, weiß aber, was Deutschland fehlte: „Die Führungsqualität auf dem Platz zeigt sich heute anders als noch vor fünf Jahren. Es sind Spieler gefragt, die nicht durch Schreien oder böse Fouls den Fokus auf sich ziehen, sondern die den Ball fordern, die durch Entscheidungen auf dem Platz vorangehen. Genau so ein Spieler hat Deutschland in der Phase nach dem 0:1 gefehlt."
Keine Tendenz bezüglich Jung vs. Alt
Den großen Unterschied machte aber gestern nicht die Erfahrung der Italiener. „Wenn einer der beiden Bälle in den ersten 20 Minuten nicht auf der Linie geklärt wird (Hummels nach Corner, 6. Minute, Anm.) oder um Zentimeter am Tor vorbeigeht (Khedira, 13. Minute, Anm.), geht Deutschland in Führung und wir sprechen heute darüber, was Italien falsch gemacht hat." Auf diesem Niveau sind es die Kleinigkeiten, die ausschlaggebend sind. Beide Tore sind „aus individuellen bzw. gruppentaktischen Fehler entstanden." Deutschland fehlte schlichtweg ein guter Plan B, „ein 4-4-1-1 mit dem wendigen Reus hinter/neben Gomez/Klose oder ein variables 4-3-3, in dem drei zentrale Mittelfeldspieler - Schweinsteiger, Kroos, Khedira - defensiv die Breite absichern und bei Ballgewinn mehr Anspielstationen für den ersten Pass in die Tiefe haben" wären solche Möglichkeiten.
Das Fazit zu Deutschland und Italiens Chancen im Finale
„Hervorzuheben ist die qualitative Breite des Kaders und die wieder einmal gezeigte Teamfähigkeit, die nach dem gestrigen Ausscheiden sicher einem Härtetest unterzogen wird", so Scherb, „ich bin aber überzeugt, dass das deutsche Trainerteam die richtigen Schlüsse ziehen wird und nach einer Trauerphase mit einer ‚Jetzt erst recht!'-Mentalität die Vorbereitungen für die WM-Qualifikation aufnehmen wird." Die Italiener wiederum haben sich gemausert und sich „durch die neue Spielanlage mit tiefem, vertikalen und schnellem Passspiel sowie hohem Pressing viele Sympathien erspielt." Martin Scherb hat auch schon einen Tipp fürs Finale parat: „Ich denke, dass wieder Kleinigkeiten den Ausschlag geben werden und wir ein enges Spiel mit einem 1:1 nach 90 Minuten oder einen 2:1 Sieger sehen werden."
Martin Scherb ist Trainer des SKN St. Pölten und analysiert exklusiv auf 90minuten.at ausgewählte EM-Spiele. Dabei nimmt er Stellung zur Taktik, strittigen Szenen und bewertet die Spiele aus der Sicht eines Fußballtrainers.
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