Martin Scherb über das Weiterkommen Italiens: 'Reifer, initiativer und taktisch variabler'

In seiner Analyse zum Viertelfinale zwischen England und Italien erklärt 90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb, warum die Italiener das Spiel bald in Griff bekommen haben, bemängelt, dass zu wenig geschossen wird und meint, dass die Deutschen durch die la

scherbengvitaIn seiner Analyse zum Viertelfinale zwischen England und Italien erklärt 90minuten.at-EM-Experte Martin Scherb, warum die Italiener das Spiel bald in Griff bekommen haben, bemängelt, dass zu wenig geschossen wird und meint, dass die Deutschen durch die lange Pause keinen echten Vorteil haben.


Schnelle Entscheidung gesucht

Beide Teams starteten wie aus der Pistole geschossen, Daniele de Rossi traf nach drei Minuten den Pfosten, Schlussmann Gianluigi Buffon musste bei einem Abschluss von Glen Johnson aus kurzer Distanz in der 5. Minute eingreifen. Nach einem starken Beginn zog sich die englische Elf zurück. „Beide haben im Gegensatz zu manch anderem KO-Spiel sehr aktiv begonnen und wollten mit einem frühen Tor die Weichen für den Aufstieg stellen. Ich glaube aber nicht, dass Roy Hodgson das wollte", so Scherb. Eher war es der Gegner, der den „Three Lions" sein Spiel aufzwang: „Die Italiener waren insgesamt als Mannschaft technisch besser und zwangen die Engländer früh in ihr tiefes 4-4-2 und bekamen das Spiel schneller unter Kontrolle."


Hart als echte Nummer eins

Italien erhöhte die Schlagzahl, Joe Hart, 26-jähriger Schlussmann von Manchester City, war aber stets zur Stelle: „Entscheidend ist, dass dieser Spieler, der diesen Anspruch auf die Nummer eins vom Start weg hat, dieser Aufgabe gerecht wird. Hart hat, auch unter der historischen Betrachtung, einen guten Job gemacht." Wichtig sei dabei auch gewesen, dass sich England auf ihn schon lange festgelegt hatte, denn „gerade bei einem so großem Turnier, bei dem jede Aussage und jede Geste millionenfach beobachtet und bewertet wird, ist das wichtig." Mit guten Torhütern ist das Mutterland des Fußballs in den letzten Jahrzehnten nicht gerade gesegnet gewesen.


Weitschüsse als probates Mittel

Für mich war es eine taktische Aufgabe des Trainers an die Mannschaft, die tiefstehenden Engländer mit Weitschüssen zu bezwingen oder mit abgefälschten Bällen zum Erfolg zu kommen", so der St. Pölten-Coach. Warum aber ansonsten so wenig geschossen wird, versteht er nicht ganz: „Generell ist zu beobachten, dass in den letzten Jahren immer weniger versucht wird, mit Distanzschüssen zum Erfolg zu kommen, obwohl die modernen Bälle unberechenbarere Flugkurven haben." Gegen England waren sie ein gutes Mittel, um zu überraschen.


Italiener reifer

Die Engländer versuchten es eher mit der „italienischen" Taktik, mit dem Tiefstehen und mit Kontern, mehr war aus Scherbs Sicht nicht möglich. „Ich denke, England hat sein Potential abgerufen, es waren auch durchaus gute Möglichkeiten da", stellt er den Kickern von der Insel ein mittelprächtiges Zeugnis aus. „Italien war als Mannschaft reifer, initiativer und taktisch variabler", es lag also auch am Trainer und seinen Vorgaben, „deshalb sind sie verdient aufgestiegen, wiewohl Efmeterschießen auch immer mit etwas Glück verbunden sind."


Die Schwierigkeiten eines Elfmeterschießens

Die Geschichte der Elmfeterschießen beider Teams in den letzten Jahren war nicht wirklich großartig. Die Engländer haderten nur allzu oft damit, ein Spieler wie Andrea Pirlo zeigte, dass es im Kopf stimmen muss. Der Routinier schlenzte das Leder in Panenka-Manier ins Tor. Generell gelte, dass es „technisch natürlich trainierbar ist. Aber die Psyche der Spieler ist verschieden, den einen lässt es kalt, der andere wird nervös." Ein guter Trainer würde also mentale Unterstützung schon in der Vorbereitung bereitstellen: „Es hilft, wenn man im Vorfeld sportpsychologische Unterstützung herbeizieht und die potentiellen  Elfmeterschützen auf alle möglichen Szenarien vorbereitet. Ich bin überzeugt, dass beispielsweise beim deutschen Team diesbezüglich ähnliche Vorbereitungen getroffen worden sind."


Deutschland mit langer Pause, aber...

Die Deutschen haben eine längere Spielpause als die Italiener. Scherb vermutet allerdings, dass dies nicht unbedingt ein großer Vorteil ist: „Es gibt drei volle Tage Pause, das sind Spieler auf diesem Niveau, das ganze Jahr gewohnt!" Dennoch sieht er Deutschland in der Favoritenrolle: „Wenn es normal läuft, dann wird Deutschland weiterkommen. Italien hat mit Pirlo einen überragenden Strategen, Deutschland mit Özil, Khedira und Schweinsteiger gleich drei. Italien hat mit Balotelli und Cassano zwei gute Stürmer, die aber zuviele Chancen brauchen, Deutschland mit Gomez oder Klose zwei Stürmer, die aus wenigen Möglichkeiten Tore machen." Aber Chancen gibt es immer...

 

Martin Scherb ist Trainer des SKN St. Pölten und analysiert exklusiv auf 90minuten.at ausgewählte EM-Spiele. Dabei nimmt er Stellung zur Taktik, strittigen Szenen und bewertet die Spiele aus der Sicht eines Fußballtrainers.

.