Ein Paul Scharner hat Recht

Paul Scharner kritisiert nach seinem Karriereende die fehlende Moral im Fußballgeschäft. Ernst genommen wird er in Österreich damit nicht. Dabei hätten Scharners Aussagen eine breite Diskussion verdient. Ein Kommentar von Gerald Gossmann

Es war vor zehn Jahren als ein 23-jähriger Niederösterreicher dem heutigen deutschen Teamchef mitteilte, dass er seiner geplanten Einwechslung nicht zustimmen werde. Seit diesem 19. Oktober 2003 gilt Paul Scharner in Österreich als verhaltensoriginell. Selten hat ein Spieler hierzulande ähnlich polarisiert. Dabei ist seine Bilanz durchaus beachtlich: Acht skandalfreien Jahren in der Premier League stehen zwei verbale Angriffe auf heimische Teamchefs und ein diffuser Abgang beim HSV gegenüber. Paul Scharner geht damit als Verrückter in die Annalen des heimischen Kicks ein. Machten sich anfangs nur die Krankls der Nation über ihn lustig, tut das mittlerweile ein ganzes Land. Das war nicht immer so. Scharners Leistungen in England riefen Respekt hervor. Auch sein erster Rücktritt aus dem Nationalteam, 2006, konnte dem nichts anhaben. Seine Kritik an der Unprofessionalität im ÖFB stieß damals durchaus auf Zustimmung in breiten Teilen der Bevölkerung. Scharner übernahm die Verantwortung für die Weiterentwicklung des ÖFB-Teams. Das wurde ihm von vielen Seiten hoch angerechnet. Erst sein zweiter Rücktritt unter Koller ließ ihn zunehmend unzurechnungsfähig wirken und die Stimmung gegen ihn kippen.

 

Was Paul Scharner sagt, wird in Österreich seitdem nicht mehr ernstgenommen, auch wenn es Dinge sind, die Diskussionen beinahe erzwingen. Im Interview mit „Ö3" erzählt Scharner jetzt nach seinem Karriereende von Aufnahmeprüfungen unter Spielern. "Da wirst du gefesselt, das ganze Team zieht dich nackt aus, dann wirst du eingeschmiert mit schwarzer Pasta am Arsch, und jeder kommt und haut mit dem Badeschlapfen drauf." In Fußballvereinen sei das eine gängige Methode. Scharner hat sie 2002 bei der Wiener Austria erlebt. Als 21-jähriger. "Es geht darum die Person zu brechen, dass sie alles mitmacht was die Rädelsführer vorgeben. Es war ein harter Kampf, die Brille ist kaputt gegangen, aber gegen fünfzehn andere hast du keine Chance", erzählt Scharner.

 

Die Hierarchie wird zwischen Kabine und Dusche ausgefochten
Der Fußball hat viele ähnliche Geschichten geschrieben. Schon in Jugendmannschaften von Dorfvereinen wird die Hierarchie innerhalb der Mannschaft in Kabine und Dusche ausgefochten. Was Scharner erzählt passiert in Fußballkabinen landauf landab. Das schwierigste im Fußballgeschäft sei oft nicht die eigene Leistung zu bringen, sondern sich seinen Platz in der Mannschaft zu erkämpfen.

 

Nicht umsonst zieht Marko Arnautovic nach seinem Abgang aus Bremen keine sportliche Bilanz, dafür aber eine, welche seine Hierarchie im Team betrifft. „Ich war beliebt, man wird mich vermissen, ich war immer ein Rädlsführer", erklärt er sein Fazit. Arnautovic ist ein Beispiel für ein klassisches Hierarchiebewusstsein im Fußball. Aufgewachsen in den Tiefen Wiens, zog er schon früh mit seinen Kumpanen wie in Gangs durch die Straßen. „In unserem Bezirk haben wir regiert", erzählte er einmal gegenüber dem „Datum" und ergänzt: „Also nicht ich persönlich, es gab schon einige über mir." Arnautovic ist mit seiner Erfahrung damit beinahe prädestiniert für den Fußball. Denn um nichts anderes geht es von der Jugend- bis zur Profimannschaft. Seinen Rang erkämpfen, in der Hierarchie Bestätigung suchen und seinen Mann stehen.

 

Fußball als Über-Facebook

Sebastian Deisler ist das wohl prominenteste Beispiel, das an diesen Anforderungen scheiterte. Deisler galt als der Retter des deutschen Fußballs, als Spieler wie Jancker und Jeremis das deutsche Team dominierten. Nach schweren Depressionen beendete er 2007 seine Karriere. Als Spieler von Bayern München, wo seine Mitspieler ihn auch „die Deislerin" nannten. In der „Zeit" zog er Jahre später Bilanz: „Es war ein bisschen so, als sei ich auf eine ewige Klassenfahrt geraten. Da gibt es doch auch immer die Lauten, die Bestimmer – und die, die lieber um neun im Bett wären, aber bei der Kraftmeierei mitspielen, um nicht ausgelacht zu werden. So habe ich mich gefühlt. Ich wollte auch hart sein, grob sein."

 

Das Fußballgeschäft ist in vielen Kabinen zu einer Art Über-Facebook geworden. Du musst zeigen was du hast, nicht wer du bist. Es geht um Konkurrenz und das Emporklettern auf einer selbst geschaffenen internen Hierarchie. Frauen, Autos, Machogehabe. Wer darin punktet klettert nach oben. Nicht ohne Grund wechseln Fußballspieler Frauen wie Unterhosen. Es mag zwar in vielen Fällen die ständige Verfügbarkeit von Sex zu einem Rausch der Sinne führen, oft ist es aber auch die Bestätigung des eigenen Status in einer Hierarchie, die Spieler antreibt. Das Problem haben nicht jene, die am Halligalli gefallen finden, sondern Spieler die moralisch ein Problem mit so mancher Praxis haben.

 

Darf sich jemand über ein System beschweren, von dem er profitierte?
Auch Paul Scharner erzählt im Nachhinein Geschichten davon. "Die Meisterfeier der Wiener Austria 2003 fand in einem Bordell statt. Ich wollte da nicht hin, ich bin verheiratet und war meiner Frau immer treu. Aber ich war sowieso verschrien als Einzelgänger und sogar als schwul, weil ich da nicht mitgemacht habe." Auch Deisler wurde mehrfach nach seiner sexuellen Orientierung gefragt, nachdem er das Spiel um die meisten Damenbekanntschaften nicht mitspielen wollte. Die Fußballkabine ist einer der letzten Orte konstruierter Männlichkeit. Man kann sich bei diesen Geschichten leicht vorstellen, wie schnell eine theoretische Diskussion über das Outing homosexueller Spieler, im Umfeld einer Fußballkabine, für die Betreffenden zum untergeordneten Ziel verkommt.

 

Man könnte jetzt sagen: Ein Scharner, der mit dem Fußball viel Geld gemacht hat, hat sein Recht auf Kritik am System, von dem er profitierte, verspielt. Vielmehr geht es aber um die Frage, warum man als talentierter Fußballer oftmals auch eigene moralische Grundsätze verwerfen muss, um bestehen zu können.

 

Scharner spricht Themen an, die weitgehend tabuisiert werden. Ernstgenommen wird er in Österreich auch damit nicht. „Der Frührentner teilt halt gerne aus" schreibt der „Kurier" über ein Facebookposting zu Scharners Kritik am Fußballgeschäft. Eine breite journalistische Diskussion über oftmals fehlende Moral im Fußball, über eine Szene, die sich zunehmend selbst sozialisiert, bleibt aus. Ähnlich wie zuletzt bei Rapids Co-Trainer Carsten Jancker, der seinen Verteidiger aufgefordert haben soll, seinem Gegenspieler gegen das Knie zu treten. Die lapidare Reaktion vieler Beobachter: Das sei gängige Praxis und beinahe überall nicht anders.

 

Legitimation durch gängige Praxis?

Ähnlich verhält es sich auch bei Scharners Kritik an der fehlenden Moral im Fußball. Dabei stellt sich die Frage: Bekommt etwas, nur weil es gängige Praxis zu sein scheint, automatisch die Legitimation dafür?

 

Scharner hat selbst einige Böcke in seiner Karriere geschossen. Er hat seine Einwechslung unter einem anerkannten Fußballfachmann verweigert und er hat zu einem ungünstigen Zeitpunkt ziemlich weltfremd einen Stammplatz im Nationalteam gefordert. Seine Worte über Kabinenhierarchien und Aufnahmerituale verlangen aber nach einem öffentlichen Diskurs anstatt nach einem müden Lächeln der Scharner-Kritiker.
g.gossmann@90minuten.at