Marco Verratti: Der neue Pirlo?
Immer öfters wird Marco Verratti als neuer Andrea Pirlo abgefeiert. Doch kann der 22-jährige Italiener die hohen Erwartungen auch erfüllen? Von Andreas Prentner
Die berechtigte Frage, die man gleich zu Beginn stellen kann: Ist das überhaupt möglich, das Lebendwerk von Andrea Pirlo weiterzuführen? Schließlich ist Pirlo einer der begnadetsten Männer seiner Zunft und hat mit - unter anderem - zwei Champions-League-Titeln und sechs Meisterschaften im Club-Fußball Unglaubliches geleistet. Hinzu kommt der Weltmeistertitel mit Italien aus dem Jahr 2006. Doch mit Marco Verratti von Paris Saint-Germain wird bereits seit einiger Zeit medial ein „neuer Pirlo" installiert.
1,65 Meter „groß", 60 Kilo
Etwa zwei Autostunden von Rom entfernt wird am 22.11.1992 ein Kind geboren, das die Welt noch in Staunen versetzen sollte. Mit 1,65 Metern Körpergröße und einem Gewicht von 60 Kilogramm ist er bei weitem nicht als Schwergewicht einzuordnen. Und trotzdem bekleidet er mit dem zentralen Mittelfeld eine Position, die er trotz seiner nicht unbedingt starken Physis sehr gut ausführt. Eine Mannschaft wie Paris Saint-Germain, die mit Stars gefüllt ist, wird im medialen Mainstream üblicherweise an Titeln und Toren gemessen und weniger danach, was dahinter steckt. Die Offensivabteilung des französischen Hauptstadtclubs zählt mit Sicherheit zu den besten der Welt, doch im Hintergrund gibt es einen jungen italienischen Strippenzieher, der einen Löwenanteil zur dritten Meisterschaft in Folge und auch zu allen anderen gewonnenen Titeln beiträgt.
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Der neue Pirlo. Oder doch der neue Xavi?
Doch was zeichnet ihn nun aus, den designierten Pirlo-Nachfolger, oder wie Cesc Fabregas ihn in einem Interview nannte: „Den neuen Xavi". Xavi und Pirlo sind Spieler, die aufgrund ihrer Erfahrung, ihrer technischen Kompetenz und ihrer Fähigkeit, ein ganzes Spielsystem zu lenken, unglaubliche Erfolge feiern durften. Marco Verratti hat diese Rolle bereits mit seinen 22 Jahren bei einem der besten europäischen Vereine inne. Wie Xavi und Pirlo ist auch Verratti kein Mann, der mit vielen Toren für Furore sorgt. Auch seine Quote bei Vorlagen ist allenfalls durchschnittlich. In dieser Saison hat er in 31 Spielen in der höchsten französischen Spielklasse zwei Tore und neun Vorlagen auf der Haben-Seite. Insgesamt hat er in 128 Spielen für Saint-Germain drei Treffer und 22 Assists auf seinem Konto.
Verratti ist ein Denker
Verratti ist ein Denker und genau das ist es, was ihn so attraktiv für alle europäischen Topclubs macht. Und es hatte auch einen Grund, dass Cesare Prandelli bei der Weltmeisterschaft in Brasilien den jungen Verratti gleich im ersten Gruppenspiel gegen England direkt neben Andrea Pirlo im zentralen Mittelfeld positionierte. Spieler, die in zentraler Position ein Niveau der Weltklasse erreichen wollen, müssen auf engstem Raum den Ball beherrschen können und blitzschnell Entscheidungen treffen, die über den weiteren Spielverlauf entscheidend sein können. Mittlerweile passieren sogar hin und wieder Pirlo Ballverluste, wenn er wieder einmal einen Gegner durch eine einfache Drehung aussteigen lassen will. Diese einfache, aber sehr effektive Bewegung, hat sich Verratti wohl vom Altmeister abgeschaut. Auch Verratti lässt sich liebend gern zwischen die beiden Innenverteidiger zurückfallen, um von ganz hinten das Spiel zu eröffnen, wenn es die Situation erfordert.
Unerbittlicher Kampf
Eine weitere Eigenschaft, die er mit dem Andrea Pirlo in jüngeren Jahren gemeinsam hat, ist der unerbittliche Kampf. Verratti ist trotz seiner geringen Körpergröße kein schlechter Zweikämpfer und ist sich absolut nicht zu schade, für ein Tackling eine Karte zu kassieren, um einen gegnerischen Angriff zu unterbinden. Einige erinnern sich wohl noch an seine unglaubliche wichtige Grätsche gegen Lionel Messi in der diesjährigen Gruppenphase der Königsklasse, als dieser plötzlich vor dem Tor von Salvatore Sirigu auftauchte. Die Pariser unterlagen mit 3:1, doch auch in dieser Partie ging Verratti Wege, die selbst für erfahrene Spieler nicht alltäglich sind.
Das Gehirn von Paris St. Germain
Mit nur 22 Jahren ist er gemeinsam mit Blaise Matuidi das Gehirn von Paris Saint-Germain. Die Aufgabe: Bälle in die Millionen-Offensive zu befördern und die Spielanlage je nach Situation zu steuern. Allerdings gibt es eine Sache, die er Andrea Pirlo (selbst in jungen Jahren) voraus hat. Nämlich die Schnelligkeit mit und ohne Ball. Wenn sich die Offensivabteilung nur ein wenig in Überzahl befindet, geht er das Risiko und sucht mit viel Dynamik das eins gegen eins mit dem ersten Gegenspieler. Wenn das Vorhaben geglückt ist, setzt er zum nächsten Schritt an, nämlich einen punktgenauen Pass oder Flanke zu einem Mitspieler.
Italien-Premiere mit 19
Was Verratti in Paris macht, ist den Italienern jedoch ziemlich egal. Die Tifosi hoffen vor allem, dass Verratti in der Nationalmannschaft die Nachfolge von Pirlo antreten kann. Am 15.8.2012 gab Verratti unter Cesare Prandelli sein Länderspiel-Debüt. Und zwar im zarten Alter von nur 19 Jahren. Zum Vergleich: Andrea Pirlo war bei seinem ersten Einsatz für sein Land unter Giovanni Trapattoni bereits 23 Jahre alt (7.9.2002). Für Verratti ist dies natürlich eine große Ehre, zumal es sehr viele talentierte italienische Mittelfeldspieler gibt. Wie bei seinem Club, geht der junge Spielmacher auch in Nationalmannschaft oft viel Risiko ein. Viele Mittelfeldspieler steigern ihre Passquote mit einfachen, geradlinigen Pässen zu Mitspielern. Verratti liebt das eins gegen eins und verspürt wohl einen gewissen Nervenkitzel, wenn ein Zweikampf einmal schief gehen sollte. Im Stile eines Wayne Rooney unternimmt der Italiener aber auch jede Anstrengung, seinen Fehler wiedergutzumachen.
Der Erste auf der Warteliste
Marco Verratti hat durchaus das Zeug, das Lebenswerk von Andrea Pirlo fortzusetzen. Verratti vereint nahezu die gesamte Palette an Talent und kombiniert sie mit Dynamik und einer gehörigen Portion Selbstvertrauen. Außerdem hebt der 22-Jährige trotz seiner Star-Stellung nicht in unsympathische Sphären ab, was Andrea Pirlo ebenfalls Zeit seines Lebens ausgezeichnet hat. Und auch wenn im Fußball alles sehr schnell gehen kann, müssen sich die anderen Topclubs dieser Welt wohl noch ein bisschen gedulden. Verratti weiß das Vertrauen von Paris Saint-Germain sehr zu schätzen und hat schon mehrmals erklärt, dass er „noch viele Jahre" in der französischen Hauptstadt Fußballspielen möchte. Sollte der Mittelfeldspieler also verletzungsfrei bleiben, werden wir künftig weiterhin viele Fußballspiele mit diesem unglaublichen Talent erleben. Und auch wenn Andrea Pirlos Denkmal bereits in Stein gemeißelt ist: Marco Verratti ist der Erste auf der Warteliste für eine potenzielle Nachfolge.