Vea Kaiser: ‚Ich habe das Talent, immer zwischen den Arschlöchern zu sitzen'
Vea Kaiser hat 2012 mit ihrem Debütroman „Blasmusikpop" für Aufsehen gesorgt. Sowohl im Buch, als auch im Leben der Niederösterreicherin spielt der Fußball eine große Rolle. Wie diese mit Stöckelschuhen und Altgriechisch harmoniert? Ein Gespräch im Vorfel
90minuten.at: In ihrem Wikipedia-Eintrag ist zu lesen, dass Sie drei Dinge wirklich glücklich machen: Fußball, Stöckelschuhe und Altgriechisch. Wie passt das zusammen?
Vea Kaiser: Vermutlich gar nicht. Es handelt sich dabei um drei große Leidenschaften von mir, die mir sehr am Herzen liegen und für die ich mich sehr begeistern kann und das war es dann auch schon mit den Zusammenhängen. Fairerweise muss ich aber dazu sagen, dass meine Begeisterung für Stöckelschuhe seit ich einen Hund habe ein wenig abgeflaut ist, beim Gassi oder Spazieren gehen sind andere Schuhe deutlich angenehmer. Aber meine Leidenschaft für Altgriechisch und Fußball habe ich mir unabhängig davon erhalten. Letzteren lebe ich vor allem als begeisterte Rapid-Anhängerin und natürlich auch jetzt bei der Weltmeisterschaft aus.
Was macht für Sie dabei die Begeisterung aus?
Da gibt es viele Facetten, denen aber auch einige Dinge gegenüberstehen, die mich am Fußball stören. Als uns der Taufpate meines Bruders – übrigens sehr zum Ärger meines Taufpaten, eines Austrianers – schon früh zu den Rapid-Spielen mitgenommen hat, war ich vor allem von der Stadionatmosphäre angetan. Diese ganz spezielle Stimmung hat mich angezogen und ich hab all die unterschiedlichen Eindrücke und Emotionen ganz tief in mich aufgesogen. Später war ich dann mit einem Fußballer zusammen, den ich in der Regionalliga Ost zu allen Spielen begleitet habe und daher war ich auch auf vielen Dorfplätzen und habe die nicht immer positive Stimmung dort erlebt. Auf manchen Plätzen war die Atmosphäre – auch durch Alkohol – sehr negativ. Das soll jetzt nicht mädchenhaft klingen, aber mein erster Bezug zur Welt ist Sprache und daher werde ich ein wenig unrund, wenn sich Leute extrem im Ton vergreifen und übel schimpfen. Die meisten Fußballfans sind sehr gesittet, aber ich habe das Talent dafür, immer zwischen den Arschlöchern zu sitzen und daher habe ich mir Stadionbesuche ein wenig abgewöhnt.
Im Stadion trifft man Sie heute also nicht mehr an?
Zumindest nicht mehr so oft wie früher. Ich bin immer noch gerne bei dem ein oder anderen Rapid-Spiel, vor allem bei Europacup-Matches, und mag auch die Stimmung bei der Vienna sehr gerne, aber die meisten Spiele schaue ich mir heute im Fernsehen an und das am liebsten mit Freunden gemeinsam im Lokal. Wenn ich in Hamburg bin gehe ich außerdem gerne zu Spielen des FC St. Pauli. Das hat dort im Stadion etwas sehr entspanntes an sich und ist mit einer eigenen Weltanschauung und einer linken Grundhaltung zur Welt verbunden, die mir irrsinnig sympathisch ist.
Passt in dieses fußballerische Weltbild auch das Nationalteam?
Natürlich schaue ich mir auch Länderspiele an, wobei ich mit dem Thema Nationalismus so meine Probleme habe. Ich war jetzt zwei Tage in Berlin und habe gestaunt, wie viele Autos dort Schwarz-Rot-Gold beflaggt sind und wie groß der Patriotismus dort gerade gelebt wird. Das ist grundsätzlich auch nichts Schlechtes, aber wenn sich der Patriotismus in Richtung Nationalismus entwickelt, kriege ich ein Problem damit. Daher drücke ich jetzt bei der Weltmeisterschaft auch der Schweizer Nationalmannschaft die Daumen, weil darin sehr viele Nationalitäten vertreten sind und dadurch das Thema Nationalismus eigentlich wieder aufgelöst wird.
Wie intensiv verfolgen Sie die Spiele der Weltmeisterschaft?
Ich hatte jetzt gerade an der Uni eine Prüfung in einem Kurs, der immer im Sommersemester stattfindet und den ich auch schon 2008, 2010 und 2012 besucht habe ohne ihn je abzuschließen. Da in all diesen Jahren Fußball-Großereignisse stattfanden, weiß ich schön langsam auch, warum ich die Prüfung nie gemacht habe. (lacht) Im Ernst: Ich kippe bei Welt- und Europameisterschaften voll rein, schaue mir sehr viele Spiele an und bin richtig sauer, wenn ich, wie zuletzt Spanien gegen die Niederlande, ein tolles Spiel verpasse. Ich fiebere bei den Partien mit und bin bei Griechenland gegen die Elfenbeinküste dann auch mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher gesessen. Da ich selbst eine Zeit in Griechenland gelebt habe, bin ich ein großer Griechenland-Fan und die Konstellation mit dem Elfmeter in letzter Minute hatte alle Formen einer klassischen griechischen Tragödie, in der der Held schlussendlich an den Früchten seiner Arbeit scheitert.
So gesehen ist der Torschütze Samaras ein untypischer griechischer Held?
Zumindest ist er kein klassischer Held der griechischen Tragödie. Klassisch wäre es gewesen, wenn er den Elfmeter verschossen hätte und weil ich das irgendwie auch befürchtet habe, habe ich auch schon mal vorsorglich geweint. (lacht) Beim Tor bin ich dann vom Sofa gesprungen und habe mich so gefreut, dass der Hund einen halben Herzinfarkt bekommen hat. Und das nicht nur, weil Griechenland durch dieses Tor aufgestiegen ist, sondern weil ich mich für Überraschungen und überraschende Wendungen wie den Elfmeter ganz grundsätzlich sehr begeistern kann und die aktuelle Weltmeisterschaft viele solche Wendungen und untypische Ereignisse mit sich bringt. Im Vorfeld hat jeder auf die klassischen Favoriten getippt, dass dann aber ausgerechnet Spanien als erstes Team ausscheidet und in der England-Gruppe Uruguay und Costa Rica anstelle von Italien und England aufsteigen, hat mich begeistert. Ich finde solche Außenseitersiege sympathisch und halte gerne zu Underdogs, die während eines Spiels oder eines Turniers über sich hinauswachsen und schöne, moderne Heldengeschichten schreiben. Exemplarisch dafür ist auch der mexikanische Torhüter Ochoa ...
... der mit seinen Glanztaten die Brasilianer zur Verzweiflung brachte?
Genau. Der Junge hat aktuell nicht mal einen Verein, galt immer als Wackelkandidat und ist dann in diesem Spiel in einer Art und Weise über sich hinausgewachsen, die nur begeistern kann. Das sind wunderschöne Momente, die ich am Fußball mag und die man auch bei fast allen Teams – mit Ausnahme von Deutschland – erleben kann.
Wieso nehmen Sie Deutschland davon aus?
Weil die Deutschen Fußball spielen, wie sie Autos bauen: Irrsinnig zuverlässig und solide. Da gibt es kaum Ausrutscher oder Überraschungen, das Unentschieden gegen Ghana kann man da schon als große Sensation werten. Aber um das klarzustellen: Ich habe kein Problem mit der deutschen Nationalmannschaft und gehöre ganz sicher nicht zu denen, die immer zu allen Gegnern Deutschlands halten und den Deutschen nur Niederlagen und das frühestmögliche Ausscheiden wünschen. Mit dieser Haltung kann ich überhaupt nichts anfangen und die gefällt mir auch nicht. Als wir uns Deutschland gegen Portugal in einem Lokal angesehen haben, war dort eine ganz eigenartige Stimmung. Bis auf wenige Auslands-Deutsche haben alle zu Portugal gehalten und das sicher nicht, weil sie so einen intensiven Bezug zu dem Land haben oder Ronaldo so toll finden.
Wir haben eingangs schon über ihre Begeisterung für den Fußball gesprochen. Was macht darüber hinaus die Faszination des Sports aus?
Die liegt ganz klar in der Bewegungsdynamik. Es gibt keine zweite Sportart, die von derart komplexen Bewegungsabläufen lebt. Im Fußball ist vieles möglich, was immer wieder für überraschende Spielmomente sorgt. Beim Spiel Italien gegen Uruguay hat mich etwa Mario Balotelli mit einer Aktion begeistert, als er versucht hat, rechts den weiten Weg an einem Verteidiger vorbeizugehen, anstelle es links – was erwartbar gewesen wäre – zu probieren. Daraus hat sich dann eine überraschende Spielszene entwickelt, die in vielen anderen Sportarten wie Volleyball oder Baseball so oder ähnlich nicht erlebbar ist. Und natürlich gefällt mir Fußball auch deshalb, weil er unheimlich viel Platz für Tragödien, Komödien und berührende Geschichten bietet. Ich finde es etwa wahnsinnig komisch, welche durchaus lustigen Auswirkungen die furchtbare Aktion von Suarez gegen Italien nun im Netz hat und es war ein irrsinnig komischer Moment, als die Griechen nach dem Spiel gegen die Elfenbeinküste am Platz versuchten Sirtaki zu tanzen, aber das einfach nichts und nichts wurde, weil sie vor lauter Freude keine Kontrolle mehr über ihre Beine hatten.
Das klingt ganz so, als könnten Sie sich beim Fußball vor allem für die Details und Momentaufnahmen und weniger für das große Ganze an sich begeistern?
Das liegt wohl daran, dass ich Autorin bin und die goldene Regel eines Romans lautet, ins Detail zu gehen. Es bringt nichts zu schreiben „er war nervös", sondern man muss das beschreiben und schreiben, dass er eine Zigarette nach der anderen raucht, von einem Bein aufs andere steigt und Fingernägel beißt. Kleine Details sagen oft viel mehr über das große Ganze aus als man meinen könnte. Das gilt im übrigen auch für die Balotelli-Szene: Der Junge ist vielleicht nicht die hellste Glühbirne unter Gottes Sonne, aber in diesem Moment hat er eine unglaubliche spielerische Intelligenz bewiesen, die bei ihm wohl schon instinktiv abläuft.
Sehen Sie auch noch andere Parallelen zwischen Literatur und Fußball?
Die auffälligste Parallele in meiner Arbeit ist wohl, dass ich auch über Fußball schreibe. Mein Roman „Blasmusikpop" endet damit, dass der FC St. Pauli zu einem Gastspiel in ein Dorf namens St. Peter am Anger kommt und eine der Hauptfiguren ist der Stürmerstar, der für die Mannschaft eigentlich viel zu gut ist.
Ist es schwer über Fußball zu schreiben? Es gibt schließlich kaum gute Fußballbücher am Markt.
Es ist tatsächlich nicht leicht, weil es sich bei Fußball um einen sehr dynamischen und beweglichen Sport handelt, der nicht einfach in Wörter zu fassen ist. Trotzdem schreibe ich irrsinnig gerne über Fußball und ich lese auch sehr gerne Sportbücher und Biografien von Sportlern. Die Biografie von Andrew Agassi hat mich etwa ziemlich begeistert, über das Buch von Philipp Lahm habe ich mich köstlich amüsiert und bei den Sportromanen begeistern mich vor allem die frühen Reportagen von Egon Erwin Kisch, der etwa in die Beschreibung eines Cricket-Spiels zwischen England und Australien auch sehr viel über das Verhältnis der beiden Länder hinein packt. Das ist für mich dann die ganz große Kunst.
Wie steht es um Ihr Verhältnis zu anderen Ländern? Drücken Sie unabhängig von der Schweiz bei der Weltmeisterschaft auch noch anderen Nationalteams die Daumen?
Wie gesagt finde ich es immer toll, wenn Underdogs für überraschende Ergebnisse sorgen und drücke ich auch Griechenland die Daumen. Mein WM-Favorit sind aber die Niederländer ...
... die nach drei Weltmeisterschafts-Finalteilnahmen mit drei Niederlagen auch schon genügend Stoff für Tragödien geliefert haben?
(lacht) Das stimmt, aber gerade deshalb – und natürlich auch, weil sie gut spielen und ich sie einfach sympathisch finde – würde ich ihnen den Titel sehr vergönnen. Aber das gilt auch für Griechenland und die Schweiz und auch den Deutschen drücke ich die Daumen.
Wen erwarten Sie im Finale?
Dort rechne ich mit einem Favoriten wie den Niederlanden, Frankreich oder Deutschland und einem Underdog. Bei dieser Weltmeisterschaft haben schon einige kleinere Länder wie Costa Rica und Kolumbien sportlich aufgezeigt und einer davon könnte es durchaus bis ins Finale schaffen.
Und Brasilien?
Die haben mich bislang überhaupt nicht überzeugt. Das ist für mich zuwenig, um sie in einer Favoritenrolle zu sehen. Unabhängig wer es dann tatsächlich ins Finale schafft, hoffe ich, dass die Entscheidung auch wirklich sportlich fällt und nicht durch einen der vielen krassen Schiedsrichter-Fehler beeinflusst wird. Das finde ich bei dieser Weltmeisterschaft schon sehr eigenartig und bei aller Liebe zu Griechenland war auch der Elfmeter gegen Die Elfenbeinküste keiner. Samaras hat da eigentlich nur eingehängt und der Schiedsrichter pfeift und auch wenn ich mich über den Aufstieg Griechenlands freue, sollten die Entscheidungen doch lieber sportlich fallen.
Nehmen derartige Fehlentscheidungen dem Fußball auch etwas von seiner sozialen Kraft und seiner völkerverbindenden Wirkung?
Natürlich sind solche Fehlentscheidungen dafür nicht unbedingt förderlich, aber auch unabhängig davon kann der Fußball sowohl Inklusion als auch Exklusion sein. Auf der einen Seite kann Fußball wahnsinnig freundschaftsstiftend sein, auf der anderen Seite leben viele Leute über den Sport aber auch irrsinnig viel Hass aus und vergessen, dass es nur ein Spiel ist und nichts mit Krieg zu tun hat. Im selben Moment kann der Fußball aber auch schon wieder viel zur Integration beitragen oder für tiefe Einschnitte zwischen den Geschlechtern sorgen. In Fußball-Diskussionen werden Frauen immer noch ziemlich abgetan und als nicht vollwertig wahrgenommen, dabei haben viele Frauen deutlich mehr Ahnung von Fußball als manche bierbäuchigen Herren, die glauben, das allumfassende Fußballwissen mit dem Löffel gegessen zu haben. Und es gibt genug Männer, die nicht wissen, was ein Abseits ist.
Trägt zu diesem verkrusteten Rollenbild auch die öffentliche Berichterstattung bei? Im ORF moderieren und analysieren beispielsweise ausschließlich Männer die Spiele, Frauen kommen dabei nur leicht bekleidet als Sambatänzerinnen im Vor- und Abspann vor.
Ich finde diese Berichterstattung im ORF unglaublich schlimm. Männer sitzen in der Mitte, unterhalten sich über Fußball, bringen dabei keinen geraden Satz raus und nebenbei wackeln halbnackte Frauen mit dem Hintern. Entschuldigung, aber ist der ORF wirklich schon im Jahr 2014 angekommen? Mit dieser Art der Berichterstattung suggeriert man, dass Männer mehr Ahnung von Fußball haben als Frauen und das zu einem Zeitpunkt, zu dem der Fußball mehr als je zuvor in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und quer über alle Alters- und Gesellschaftsschichten sowie Geschlechter hinweg die Massen begeistert. Im ORF kommt es aber immer noch so rüber, als wären Frauen Fußball-Fans zweiter Klasse und würden sich dabei nicht auskennen, nur weil sie Brüste haben.