Christopher Gaffney: 'Die harte Realität in Brasilien wird sehr rasch zurückkommen'

Der US-Stadtgeograf Christopher Gaffney lebt und lehrt in Brasilien. Er ist Gastprofessor für Architektur und Urbanismus an der Universidade Federal Fluminense, einer staatlichen Universität in Rio de Janeiro. Gaffney beobachtet seit Jahren die Vorbereitu

 

90minuten.at: Herr Gaffney, wenn wir uns die Fernsehbilder aus Brasilien ansehen, scheint alles recht perfekt zu sein bei der WM. Doch was empfinden die Brasilianer tatsächlich, wenn es um die Fußball-WM geht?
Christopher Gaffney: Über welche Gefühle sprechen wir? Viele Brasilianer sind glücklich mit der WM-Party, aber sie wissen genau, dass das weniger tolle Gefühl, wie man mit den brasilianischen Städten umgeht, bald zurückkehren wird. FIFA und die Regierung sind jedenfalls sehr glücklich. Ich habe auf meinem Blog (http://www.geostadia.com/) genau beschrieben, weshalb die WM logistisch bisher erfolgreich ist. Brasilien ist ein wunderschönes Land, aber natürlich zeigen die, die uns das Spektakel verkaufen, nicht die Realität hinter den Stadien.

 

In den internationalen Medien ist über Proteste recht wenig zu lesen und zu sehen. Weshalb?
Das passiert deshalb, weil diese nicht auf jenem Level sind wie im Vorjahr. Es ist einfach unmöglich, dass es in Brasilien Jahr für Jahr solche großen Protestbewegungen geben kann, doch die internationalen Medien dachten, es würde heuer genau das passieren, was im Vorjahr geschehen ist. Weil das nicht der Fall ist, ignorieren sie die vielen kleineren Proteste, die Tag für Tag passieren.

 

bestof4 gepaWie wirkt sich das Abschneiden der brasilianischen Mannschaft auf die Proteste aus? Wird es bei einem Ausscheiden zu mehr Gegendemonstrationen kommen?
Die Leistung des Nationalteams ist wichtig, aber nicht entscheidend für die Proteste. Die Brasilianer sind klug genug um zu wissen, dass das Leben nach der WM genauso aussehen wird wie vor der WM. Sie werden nicht von ihren Gefühlen mitgerissen, wenn ihr Team verliert. Die Erwartungen sind niedrig und ein Ausscheiden wird die Leute eher traurig machen, nicht zornig.

 

Sie sprechen von der Zeit nach der WM. Was genau wird dann passieren?
Wir kommen dann in eine Wahlkampfphase. Die Leute werden zurück an die Arbeit gehen, die Polizei wird soziale Bewegungen und die Armen weiterhin unterdrücken und wir werden riesige Schulden zurückzuzahlen haben.

 

Was bleibt von der Freude der WM, die uns die FIFA ins Wohnzimmer liefert?
Es könnte ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl mit dem Rest Lateinamerikas geben – etwas, das Brasilien sehr lange nicht hatte. Es war sehr positiv, zusammen mit Chilenen, Kolumbianern, Mexikanern, Argentiniern und Uruguayern die südamerikanischen Bindungen mit Hilfe des Fußballs zu feiern. Doch die Freude ist von kurzer Dauer, wie immer. Und die harte Realität eines Lebens in den brasilianischen Städten wird sehr, sehr rasch zurückkommen.

 

Was ist für die Olympischen Spiele 2016 in Rio zu erwarten und ist ein Vergleich mit der WM möglich?
Es wird wieder die Klagen geben, wie spät Rio bei der Fertigstellung der elitären Sportanlagen ist, wie wenig die Stadt vorbereitet ist und dann - wie durch Magie – wird die Stadt eine riesige Party feiern, weil für die Normalität bleibt angesichts von 100.000 Gewehrläufen schlicht und einfach kein Platz. Die Konzentration auf Rio könnte zwar das Scheinwerferlicht auf die wahren Probleme dieser Stadt werfen. Doch es wird wieder die gleichen Szenen aus Naturschönheiten und Postkarten-Idylle geben, sodass sich alle Welt fragen wird: Worüber beklagen die sich eigentlich?

 

Christopher Gaffney auf Twitter: https://twitter.com/geostadia

Robert Prazak auf Twitter: https://twitter.com/rprazak