Bernhard Fleischmann: ‚Man spürt den Moment, in dem der Funke überspringt'

Der österreichische Indietronic-Musiker Bernhard Fleischmann (www.bfleischmann.com) wird heute vor dem WM-Achtelfinal-Hit Belgien gegen die USA im FM4 WM-Quartier im Wiener WUK zu Gast sein. Mit uns hat der Austria-Fan vorab über die Schnittmengen zwische

 

90minuten.at: Herr Fleischmann, wie viel Musik steckt im Fußball?
Bernhard Fleischmann: Schwer zu sagen. Die Schnittmenge von Konzerten und Fußballspielen im Stadion liegt wohl im Phänomen von Gruppenversammlungen. Sowohl bei einem Fußballmatch, als auch bei einem Konzert sind unterschiedlichste Formen kollektiver Euphorie möglich, wobei Zuschauer beim Konzert tendenziell auf der sichereren Seite sind, weil die Gefahr einer Niederlage verschwindend ist (lacht). Zumindest habe ich noch nie ein geschlagenes Publikum erlebt, das mit gesenkten Köpfen aus einem Konzert geht.

 

Ähnlich wie nach Fußballspielen kann man aber auch nach so manchem Konzert enttäuschte Gesichter sehen, wenn das Gebotene nicht das gehalten hat, was sich die Zuschauer erwartet haben?
Natürlich kann das vorkommen und in verstärkter Form möglicherweise nach Hip-Hop-Battles, wenn der eigene Favorit nicht gewonnen hat. An die Enttäuschung und manchmal auch Fassungslosigkeit nach einem verlorenen Fußball-Spiel kommen diese Gefühle aber nicht heran. Im Gegensatz dazu ist es aber sowohl bei Fußballspielen, als auch bei Konzerten möglich, dass sich wildfremde Menschen vor Begeisterung und Freude in den Armen liegen, wenn auch dieses Gefühl beim Fußball möglicherweise etwas intensiver und quer über alle Gesellschaftsschichten erlebbar ist. Da wie dort ist für mich diese kollektive Freude und Begeisterung aber immer ein beeindruckendes Phänomen ...

 

... das Sie nachvollziehen können?
Natürlich kann ich das nachvollziehen und hab ich das auch selbst schon erlebt und da geht es dem Musiker gleich wie dem Publikum. Man spürt diesen Moment, wenn der Funke überspringt und man eins mit dem Publikum und der Musik wird. Manchmal ist dieser Moment richtiggehend hörbar und interessanterweise kann das bei einem Konzert mit einigen tausend Besuchern genauso der Fall sein wie bei einem kleinen Konzert vor nur 50 Besuchern.

 

Ist diese zutiefst emotionale Wirkung von Musik und Fußball nicht auch ein Beleg für deren hohe soziale Kraft und vielleicht sogar völkerverbindende Wirkung? Wer gemeinsam solche Emotionen erlebt, wächst schließlich zwangsweise ein wenig zusammen, oder?
Ja, dass schweißt natürlich zusammen und meist tauscht man sich hinterher auch noch mit Freunden und Bekannten über das eben Gesehene und Erlebte aus und bespricht einzelne Szenen, Gefühle und Momente. Sowohl Fußball als auch Musik liefern also auch Gesprächsstoff und das alleine kann Menschen schon zusammenbringen, allerdings birgt der Fußball eben wie gesagt auch die negative Kraft der Niederlage, die auch extrem destruktiv, aggressiv und traurig machen kann.

 

Kann aber nicht auch diese negative Stimmung – jetzt einmal die ganz extremen Begleiterscheinungen und Ausprägungen wie Hooliganismus ausgenommen – einen gewissen Reiz ausmachen?
Es gibt Konzerte, in denen man vor Bewegung oder aufgrund der Gedanken bei einem ruhigen Lied weint und Trauer und Melancholie entstehen. Das kann im besten Fall durchaus reinigend wirken und dazu beitragen sich gewisse Dinge bewusster zu machen, diese aufzuarbeiten und seine Lehren und Schlüsse daraus zu ziehen. Beim Fußball kenne ich das nicht so intensiv, wobei ich es nachvollziehen könnte, wenn das dort jemand ähnlich empfindet.

 


Zurück zum völkerverbindenden Charakter von Fußball und Musik. Gibt es den wirklich oder ist das nur eine vielzitierte Floskel?
Bei Konzerten will ich einen solchen völkerverbindenden Charakter nicht ausschließen, auch wenn er vermutlich schwerer als beim Fußball zu finden ist. Gerade Fußball-Großveranstaltungen wie Weltmeisterschaften und Europameisterschaften hatten für mich früher aber einen ganz hohen völkerverbindenden Charakter. Da war es tatsächlich möglich, dass Fans und Anhänger unterschiedlicher Länder nebeneinander auf der Tribüne ein großes Fest feierten, jeder für sich sein Land unterstützte und man hinterher – egal wie das Spiel ausging – über die tolle Partie und die gemeinsamen Eindrücke fachsimpeln konnte.

 

Geht das heute nicht mehr?
Meiner Meinung nach werden die Spiele bei der Weltmeisterschaft in Brasilien von den Fans viel ernster genommen, als das bei früheren Weltmeisterschaften der Fall war. Es wird schneller gepfiffen und geschimpft und immer wieder werden einzelne Spieler ausgebuht. Das kenne ich so von Weltmeisterschaften nicht und erinnert vielfach schon sehr an Klubspiele, wo das Gang und Gäbe ist.

 

Woran liegt das ihrer Meinung nach?
Da bin ich zu weit weg, um das seriös beantworten zu können, aber leicht möglich, dass das mit den nicht ganz geglückten Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft zu tun hat. Sobald der erste Anpfiff erfolgt ist, war zwar von all den Unruhen, Protesten und Problemen im Vorfeld kaum mehr die Rede, aber auf die Berichterstattung und Stimmung in den Stadien schlägt das meiner Meinung nach immer noch durch. Da dürfte vorab zuviel im Haus kaputt gegangen sein, als das man jetzt einfach zur Normalität übergehen und eine große Party feiern könnte, wie sich das viele erwartet haben. Dazu kommt, dass die FIFA immer öfter mit Negativmeldungen aufhorchen lässt und sich immer mehr Fans und Experten einig sind, dass da einiges im Argen liegt und sich in Zukunft einiges ändern muss. Dahingehend lassen die bevorstehenden Weltmeisterschaften in Russland und später dann in Katar aber auch für die Zukunft wenig Positives erwarten.

 

Wir haben jetzt viel von Gemeinsamkeiten gesprochen, kommen wir zu den Unterschieden: Worin unterscheidet sich der Besuch eines Fußballspiels von dem Besuch eines Konzerts?
Zu Konzerten geht man ganz sicher mit einer neutraleren Grundhaltung als auf den Fußballplatz. Die Stimmung bei Konzerten ist weniger gereizt und weniger kämpferisch und das potenziert sich nochmals bei großen Spielen und Derbys. In solchen ganz speziellen Partien ist die Stimmung nochmals angespannter und emotionaler, da geht es um Doppelt oder Nichts. In solchen Spielen freut man sich schließlich nicht nur über den Sieg der eigenen Mannschaft, sondern zumindest gleichwertig oder oft sogar noch viel mehr über die Niederlage des Gegners. Einen großen Unterschied zwischen Musik und Fußball sehe ich zudem in der Objektivität: In Bezug auf den Lieblingsverein und die Lieblingsmannschaft sieht man im Fußball fast alles durch die Vereinsbrille, bei der Musik ist man viel kritischer. Während man sich also über ein schlechtes Spiel der eigenen Mannschaft, das mit einem Sieg endet, immer noch freuen kann, wird ein schlechtes Album der Lieblingsband zurecht kritisiert ...

 

..... auch wenn man sich dieses trotzdem anhört?
(lacht) Ja, auch wenn man sich das Album trotzdem anhört. Aber die Bereitschaft ist in diesem Fall viel größer, das Gehörte auch kritisch zu hinterfragen. Was beides verbindet – um da nochmals kurz darauf zurückzukommen – ist die Unmittelbarkeit des Moments. Die ganz speziellen Momente, die während eines Konzerts oder im Stadion entstehen, sind auch nur dort nachvollziehbar, über das TV und Zeitlupenwiederholungen wird das Spiel oder das Konzert ganz anders wahrgenommen und erzählt. Im Stadion ist etwa der Biss von Suarez ein Sekundenmoment, der sofort wieder vorbei ist, aber im TV wird der Moment 15 Mal wiederholt und bekommt damit eine viel größere Gewichtung.

 

Strittige Situationen und Ereignisse, aber auch Tore und große Chancen rücken durch die häufigen Wiederholungen im TV also viel mehr in den Mittelpunkt, als sie es eigentlich verdienen würden?
In jedem Fall verschieben sich dadurch die Höhepunkte und wird das Spiel anders erzählt. Erst neulich ist mir bei einem Besuch eines Spiels des Nationalteams wieder einmal aufgefallen, wie grundsätzlich sich die Betrachtung eines Spiels im TV und im Stadion unterscheidet. Während man im Fernsehen nur einen Ausschnitt der gesamten Bewegung am Platz sieht, erkennt man im Stadion die Bewegung der gesamten Mannschaft, wie sich einzelne Ketten verschieben und Räume auftun. Im Stadion stellt sich das Spiel also viel komplexer dar, was für mich als Zuschauer einen deutlichen Mehrwert bedeutet.

 

Wie sieht es mit der Planbarkeit von Fußball und Musik aus? Die Setlists vieler Bands wirken heute vielfach sehr durchgeplant und der Ablauf eines Konzerts ist meist bis ins kleinste Detail durchchoreografiert – der Fußball ist da viel unvorhersehbarer, oder?
Es passiert tatsächlich oft, dass der Ablauf eines Konzerts in Wien und Tage darauf in Berlin beinahe ident ist. Gewisse Schritte und Texte sind dann so eingeplant, dass man dem Publikum eine Unmittelbarkeit und Spontanität des Moments vermittelt, aber tatsächlich sind diese Spielzüge einstudiert. Ich persönlich halte davon eher wenig und lasse daher immer sehr viel Spielraum für spontane Reaktionen des Publikums und stimme dann auch den weiteren Konzertverlauf darauf ab. Ganz extrem ist das auch beim Freejazz der Fall, wo oft vorab nicht einmal klar ist, welches Instrument an diesem Abend im Mittelpunkt stehen wird und wer welches Instrument spielen wird. Aber auch dort gibt es – um noch ein letztes Mal auf die Ähnlichkeiten zwischen Fußball und Musik zurückzukommen – eine Person die den Takt angibt. In der Musik ist das der Band Leader und im Fußball ...

 

... der Kapitän?
Das habe ich früher auch geglaubt, aber beim Fußball hat diese Funktion der Trainer inne. Ganz deutlich ist mir das nach dem Abgang von Peter Stöger von der Wiener Austria bewusst geworden, der dort in seiner Zeit aus ein und derselben Mannschaft deutlich mehr raus holen konnte als das davor und auch hinterher unter anderen Trainern der Fall war. Wie in der Musik muss auch im Fußball der Band Leader, also der Trainer, das Kollektiv im Auge behalten und das Kollektiv so stark machen, dass die Mannschaft in der Lage ist, Spiele zu gewinnen.

 

Sowohl der Band Leader, als auch der Trainer machen gute Einzelspieler also in einem funktionierenden Team noch besser und erfolgreicher?
Wenn das Kollektiv oder die Band gut funktioniert, steigert das auch die Leistung jedes einzelnen Teammitglieds. Voraussetzung dafür ist, dass die Band oder das Team in der Lage ist, sich über die Musik oder die gemeinsame Leistung zu definieren und nicht über die individuelle Spielfähigkeit. Der Mastermind, Produzent oder Band Leader kann dahingehend wesentliche Impulse setzen, die darüber entscheiden, ob ein Stück funktioniert oder nicht. Und dazu gehört auch, dass man die eigene Rolle nicht auf andere überträgt oder den Druck auf andere Teammitglieder zu groß werden lässt, wie das aktuell etwa mit Neymar im brasilianischen Team der Fall ist. Aufgabe des Trainers wäre es meiner Meinung nach, den Spieler so in das Team einzubinden, dass sowohl Neymar als auch der Rest des Teams seine beste Leistung abrufen kann. So liegt der gesamte Fokus nicht auf dem Kollektiv, sondern auf Neymar, was für ihn gewaltigen Druck bedeutet und schlussendlich die Leistung des gesamten Kollektivs beeinträchtigen kann.