Sportwissenschaftler Johannes Uhlig: ‚Das müsste diktatorisch von oben passieren!'
Der Sportwissenschaftler Johannes Uhlig arbeitet seit 20 Jahren in der Fußballtrainerausbildung und ist selbst Coach des Frauen-Serienmeisters SV Neulengbach. Im Interview mit 90minuten.at gibt er seine Expertisen dazu ab, warum spanische Drittligaspieler
Der Sportwissenschaftler Johannes Uhlig arbeitet seit 20 Jahren in der Fußballtrainerausbildung und ist selbst Coach des Frauen-Serienmeisters SV Neulengbach. Im Interview mit 90minuten.at gibt er seine Expertisen dazu ab, warum spanische Drittligaspieler in Österreich gut mitspielen können, was den österreichischen Nachwuchsspielern zu einem Titel fehlt und weiß, was einen guten Kicker ausmacht.
Das Gespräch führte Georg Sander
90minuten.at: Aus sportwissenschaftlicher Sicht: Wie erklären Sie sich, dass in letzter Zeit ein Haufen spanischer Drittligaspieler so mir nichts, dir nichts in unserer Bundesliga mitkicken können?
Johannes Uhlig: Zunächst ein bisschen Theorie. Es gibt ein Spielleistungsstrukturmodell von deutschen Sportwissenschaftlern aus dem Jahr 1983, das gefällt mir gut. Es gibt allgemeine Leistungsvoraussetzungen, spezielle Leistungsvoraussetzungen und dann – an der Spitze – Taktik, Spielwirksamkeit und Spielleistung. Das ist für ein Sportspiel entscheidend. Redet man über Kondition und Fitness, ist das die Basis. Aber entscheidend ist, was mit den anderen Faktoren passiert. Konkret auf die Frage: Im Sportspiel muss man sehr ökonomisch arbeiten. Wenn die technisch-taktische Ausbildung sehr gut ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, eine hohe Spielleistung zu erreichen. Man kann das bei Kindern beobachten, die technisch-taktische Probleme haben, zum Beispiel mit der Ballmitnahme. Die müssen dann konditionell sehr viel arbeiten, denn der Ball springt weg, sie müssen drei Meter nach sprinten und haben ständig Stress. Das wirkt sich negativ auf die Hormonausschüttung aus. Die meisten Spanier sind technisch gut und können sich auf die taktischen Spiellösungen konzentrieren. So hat z. B. ein spanischer Spieler auch bei einem nur „soliden" Fitnesslevel die angesprochene Spielleistungsfähigkeit, die Sie mit Ihrer Frage meinen. Dann kann er in unserer ersten Liga auch gut mitspielen.
Ist die Basis gelegt, dann entscheiden andere Faktoren, wo ein Spieler spielt. Gibt es von den rein wissenschaftlichen Daten her also kaum Unterschiede, auf die Werte der Kicker bezogen?
Um den Fitnessbereich zu evaluieren haben wir Daten. Aber was ist Fitness? Es gehört auch auf jeden Fall die mentale Fitness dazu, das ist auch mein Ansatz. Die Substanz muss aber da sein. Jemand kann beispielsweise auch keinen Halbmarathon in 1:20 laufen, wenn er nicht entsprechend trainiert ist. Aber zwischen 1:20 und 1:25 geht es, ist er allerdings mental super drauf, kann er eventuell mit 1:19:53, einen neuen Rekord laufen. Das ist mein ganzheitlicher Ansatz. Fitness ist also nicht nur eine konditionell-energetische Sache. Die Parameter im Fußball: Schnelligkeit (z. B. Antrittsschnelligkeit und Handlungsschnelligkeit), Ausdauer, das Kraftpotential. Zum Vergleich gibt es Untersuchungen und Testwerte von Spielern aus der Bundesliga, der Regionalliga und der Gebietsliga. Signifikante Unterschiede gibt es heutzutage kaum oder nicht, was den Fitnesslevel betrifft.
Fitnessmäßig gibt es kleine Unterschiede. Aber je weiter runter es geht, desto langsamer ist das Spiel und es bringt einem Spieler nichts, wenn er der Schnellste ist, aber den Ball schlecht mitnimmt!
Ich sehe als Sportwissenschaftler Probleme, wenn wir die Fitnesswerte nackt anschauen. Wir testen einen Spieler und beurteilen z. B. die komplexe Fähigkeit der Schnelligkeit, etwa durch einen 20 Meter-Sprint mit Lichtschranken. Dabei testen wir die Fünf-, Zehn- und Zwanzigmeter-Zeit und sagen salopp: Der ist schnell. Das ist aus meiner Sicht ein völliger Blödsinn. Schnelligkeit hat so viele Facetten. Der angesprochene taktisch-kognitive Teil der Schnelligkeit ist entscheidend. Läuft ein Spieler die 20 Meter in 2,80 Sekunden und einer, der 2,86 läuft (wobei diese Unterschiede ganzheitlich gesehen marginal sind), erkennt die Spielsituation aber schneller, dann ist er um ein paar Hundertstel schneller am Ball und ist immer einen halben Meter weiter weg. Das genügt, um ein Tor zu machen oder einen tödlichen Pass zu spielen.
Wie sieht es im Vergleich zu größeren Ligen aus? Bei der Nationalmannschaft gab es ja einen großen Schritt nach vorne seit der Vorbereitung auf die EM 2008, gerade wenn man die Spiele gegen Deutschland vor der EM und das 1:2 vor einem Jahr vergleicht. Damir Canadi sagte in einem 90minuten.at-Interview, dass in der Rückwärtsbewegung Erholung stattfinden sollte.
Roger Spry, der ja auch schon damals gearbeitet hat und mit vielen Weltklassespielern zu tun hatte, sagte einmal, dass ein Christoph Leitgeb von den Sprintzeiten her einem Cristiano Ronaldo um nichts nachsteht - wenn man die Fitnesswerte isoliert betrachtet! Der Punkt von Canadi ist aber interessant. Entscheidend ist das strategische Handeln im gruppen- und mannschaftstaktischen Bereich. Bin ich taktisch und technisch gut ausgebildet, kann ich den Ball in der Mannschaft gut sichern und Passwege zustellen, bin ökonomisch unterwegs und erhole mich in der Bewegung nach hinten. Dann habe ich die Energie, um bei Ballbesitz wieder explosiv zu sein. Dieses Wechselspiel, diese Rhythmik von Belastung und Erholung ist spielkennzeichnend und wichtig. Wenn ein Team das kann, komme ich gar nicht in Bereiche hinein, in denen ich ans Limit gehen muss. Mourinho sagte in seiner Chelsea-Zeit, dass sich sein Team erholt, wenn es den Ball hat. Wenn mein Team gegen einen Nachzügler 30 Minuten vor Schluss 3:0 führt, ist es seine Hauptaufgabe den Ball ohne großen Aufwand in den eigenen Reihen zu halten, den Gegner „müde" zu spielen und sich dadurch zu erholen. Das ist Strategie und Taktik.
Das heißt also, dass sich eigentlich jeder in einen Fitnesszustand bringen kann, um Bundesliga zu spielen, das Entscheidende ist aber die Taktik, die Spielleistung, die Strategie?
Ja.
Schaut man sich die österreichischen Spitzenspieler an, fällt auf, dass denen ein paar Kilo Muskelmasse, ein paar Zentimeter Größe usw. fehlen. Die körperlichen Voraussetzungen. Die Spielmacher der letzten Jahre, Leitgeb, Junuzovic oder Hofmann, sind weder wirklich groß, noch bullig, im Vergleich zu Schweinsteiger oder anderen. Gibt es da vielleicht in der Ausbildung zu wenig Profilschärfe für gewisse Spielertypen?
Österreich hat das Problem, dass zu viel über den Zaun geschaut und den Spitzennationen nachgeeifert wird. In den 80ern war es Deutschland, da dachte man, man bräuchte mehr bullige Spieler. Dann kam Frankreich, nun ist Spanien in aller Munde. Das gibt Probleme, wenn wir dem Nacheifern und keine eigene Identität kreieren. Aber ein Xavi oder Iniesta sind zwar klein, haben aber andere exorbitant herausragende Eigenschaften. Messi und Co. brauchen wegen ihrer außergewöhnlichen Schnelligkeitsfähigkeiten mit und ohne Ball andere Attribute, wie zum Beispiel Körpergröße, nicht. Diese excellent skills haben die erwähnten österreichischen Kicker nicht.
Aber es gibt gewisse Merkmale auf gewissen Positionen. Ein Innenverteidiger muss um die 1,90 Meter groß sein, Ausnahmen wie Fabio Canavaro gibt es natürlich immer. Ein Außenbahnspieler muss sehr schnell und wendig sein und so weiter.
Es fehlen exakte Anforderungsprofile. Sammer hat sehr viel in dem Bereich gearbeitet. Wir brauchen eben folgende Merkmale im taktisch-technischen und im physischen Bereich, im anthropometrischen (Anm.: Körpermaße) auch – davon bin ich überzeugt. Im Hochleistungsbereich sollte das gang und gäbe sein. Wenn ein Tormann 1,78 Meter groß ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Weltklassetormann wird, gering. Außer er kann das, wie z. B. Barthez, kompensieren. Das sind Ausnahmen. Ich stimme der Aussage zu, dass es in Österreich diesbezüglich keine genauen einheitlichen Anforderungsprofile gibt. Das sollte man vom Spitzennachwuchs jedoch unbedingt fordern.
Das heißt, ich muss in den Akademien ansetzen? Einer, der mit 15 bei seinem Heimatverein Innenverteidiger war, aber schnell ist und gut schießen kann, der würde ein Stürmer werden.
Da arbeiten die Akademien schon gut, aber nicht einheitlich. Jede Akademie arbeitet anders. Das müsste wie in Deutschland und der Schweiz diktatorisch von oben passieren. Hansruedi Hasler hat das in der Schweiz ab 1995 propagiert: Das war eine Revolution! Die Vereine bekommen Geld, wir bestimmen als Verband die Trainer und das Konzept. Die Schweizer wollten innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahren Nachwuchsweltmeister werden. Jeder hat das zunächst belächelt. Die U17 hat das 2009 in Nigeria geschafft. Die Eigeninteressen sind ok, aber der ÖFB muss konkretere Forderungen stellen.
Auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse?
Fußball und Wissenschaft bilden eine Symbiose. Ohne neueste wissenschaftliche Erkenntnisse kommt der aktuelle Fußball nicht aus. Aber die Wissenschaft muss sich ihrer beschränkten und beratenden Funktion bewusst sein. Zu viel Einfluss darf sie auch nicht haben. Fußball ist immerhin ein Spiel und ein Spiel hat eigene Kennzeichen - es kommen viele, nicht messbare Parameter dazu.
Mit Slalomskiern kann man die Streif auch nicht runterfahren. Ist es also die nochmals verbesserte Basisarbeit, die die Lücke schließen kann, um im Nachwuchs noch besser zu werden? Die diktatorischen Vorgaben machen den Unterschied zwischen einem Kicker, der in Österreich ausgebildet wurde und einem, der seine Ausbildung in Deutschland bekam?
Das ist der qualitative Unterschied. Allen Beteuerungen der ÖFB-Verantwortlichen zum Trotz ist die Trainerausbildung, wo ich seit 20 Jahren auch tätig bin, in Deutschland und England besser. Ich bin sehr kritisch und habe sehr viel im Ausland hospitiert. Da sind wir in Österreich noch ein bisschen „weit" davon entfernt.
Gegenüber 90minuten.at erwähnten ein paar Spieler, dass das Training bei unterschiedlichen Trainern nicht großartig unterschiedlich abläuft. Was sagen Sie dazu? Kann man das in Prozenten fest machen?
Was uns aus meiner Sicht noch fehlt ist, sehr akribisch und mit Tiefgang zu arbeiten. Wenn ich zum Beispiel heute trainiere, dann muss ich wissen, was ich in den zwei Stunden mit dem Team und den SpielerInnen bezwecken will. Aufgrund einer genauen Analyse des Teams, ergeben sich strategische, taktische, technisch-koordinative, physische (konditionelle) und mentale Ziele, dazu kommt noch die eigene Spielphilosophie. Auf dieser Basis mache ich meinen Trainingsplan. Im Fußball sind Sechs-Wochen-Zyklen sinnvoll, aus Gründen der Adaptationszeiten und auch der Überschaubarkeit. Ich halte im Sportspiel weniger von Jahresplänen. Entscheidend ist, dass ich einen ganzheitlichen Ansatz verfolge und implementiere. Ein Beispiel: Ich spiele als Schwerpunkt 3 x 18 Minuten 8-gegen-8 von Sechzehner zu Sechzehner, in jedem Drittel mit verschiedenen taktischen Vorgaben, ausgerichtet auf den Gegner vom Wochenende. Da habe ich in dieser Spielform immer einen taktischen, technischen, konditionellen und mentalen Anteil. In dieser Sequenz von 54 Minuten liegt der Fokus auf technisch-taktischer Arbeit, die für mich 70 Prozent an Wertigkeit hat. Dabei trainiere ich jedoch auch begleitend dazu die „Fußball-Kondition", die das Team im Wettspiel benötigt. Das sind – grob gesagt – 20 Prozent. Bleiben die wichtigen zehn Prozent in dieser Spielform, die ich als mentales Training bezeichne. Dabei werden u. a. Konzentration, Selbstvertrauen (gutes Pressing und Zustellen der Passwege; Treffer erzielen), aber auch Frustrationstoleranz geschult. Das ist die Sicherheit, dass die Spieler wissen, dass sie der Trainer richtig auf den kommenden Gegner einstellt.
Das sind also sportwissenschaftliche Erkenntnisse und der Einfluss der Trainerperson selbst beschränkt sich auf zehn Prozent?
Oh, ich würde da keinen genauen Prozentsatz angeben. Manchmal ist der Einfluss des Trainers höher und manchmal wieder niedriger, immer auch in Bezug zum trainierenden Team betrachtet. Das tradierte Wissen aus Büchern ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Erfahrungswissen der Trainer. Diese machen oft Dinge, die nirgends verschriftet sind. Ein bestimmter Spieler braucht genau dieses Training, ein anderer Sportler wiederum jenes. Die individuelle Vorgangsweise ist essentiell.
Zusammenfassend: Man kann sich in einen Fitnesszustand versetzen, die entscheidenden Faktoren sind Technik und Taktik. Der Einfluss des Trainers ist zwar wichtig, aber „nur" zehn Prozent?
Philosophisch betrachtet ist es so, dass elf Spieler optimal interagieren müssen. Extrem gesprochen ist es so, dass wir einen Spieler isoliert auf ein physisches Topniveau bekommen können. Im Spielsport muss ich als Trainer aber schauen, dass die Spieler kooperieren und als Einheit auftreten. Mein Schema als Coach soll die vorhandenen Stärken zur Geltung bringen und die Schwächen, Stichwort Anforderungsprofil, kompensieren. Das Training muss daher so komplex wie möglich und so isoliert wie nötig sein, um das zu erlangen und immer sehr wettspielaffin sein.
Wir danken für das Gespräch!
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