Sportpsychologe Michael Grunwald im Interview: ‚Wir wollen die Logik von Mannschaft und Spiel verstehen'

Michael Grunwald hat gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Andreas Marlovits in den vergangenen Jahren einen neuen Ansatz in der Sportpsychologie entwickelt, der tiefere, unbewusste Prozesse in Teams und im Spiel für die Arbeit des Trainers aufschlüssel

Michael Grunwald hat gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Andreas Marlovits in den vergangenen Jahren einen neuen Ansatz in der Sportpsychologie entwickelt, der tiefere, unbewusste Prozesse in Teams und im Spiel für die Arbeit des Trainers aufschlüsselt. Er hat bereits in Deutschland in der 1. und 2. Bundesliga gearbeitet (u.a. bei Hannover 96). Gegenwärtig arbeitet er in Österreich mit dem SKN St. Pölten und gewährt tiefe Einblicke in die Psyche von Fußballteams und Kickern. Im Interview mit 90minuten.at spricht er über den spielentscheidenden Faktor „mentale Stärke", erklärt, wie Fußballer mit Krisen umgehen und beschreibt die Wichtigkeit der Methodenvielfalt in der Spielanlage.

Das Interview führte Georg Sander


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90minuten.at: Hannover 96, St. Pölten – wie hat es sie nach Niederösterreich verschlagen, von der deutschen Bundesliga in die zweite Spielklasse Österreichs?

Michael Grunwald: Der Kontakt kam über SKN-Obmann Gottfried Tröstl zustande. Die Fußballwelt ist klein und der Verein denkt sehr innovativ und hatte den Eindruck , dass unsere, etwas andere, Arbeitsweise gut passen würde.

 

Eine Frage, die man fast stellen muss: Wie beurteilen Sie die Unterschiede zwischen dem großen Deutschland und dem kleinen Österreich?

Für mich persönlich besteht der größte Unterschied in der etwas weniger ausgeprägten medialen Berichterstattung aus den Vereinen. Dadurch habe ich persönlich mehr Freiräume in der Arbeit mit dem Team, was es etwas leichter macht. Hier wird nicht alles transparent gemacht und dadurch ist der Druck auf den Verein und die Verantwortlichen weniger groß. Ansonsten sehe ich keine großen Unterschiede was die Bedingungen angeht. Ich kann aber in Österreich nur vom SKN St. Pölten sprechen. Hier sind insbesondere durch das neue Stadion absolut professionelle Strukturen geschaffen worden, die es mit der 1. Bundesliga in Deutschland aufnehmen können. Auch wird im Verein darüber hinaus sehr professionell gearbeitet. Was den österreichischen Fußball angeht, so sehe ich ihn auf einem guten Weg. Es fehlen jetzt nur noch die ersten richtigen Erfolge, auf denen man weiter Aufbauen kann, zum Beispiel in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2014. Dann bekommt das Team Selbstvertrauen, die Entwicklung des Fußballs und die Leidenschaft einen neuen Schub.

 


"Hier in Österreich wird nicht alles transparent gemacht und dadurch ist der Druck auf den Verein und die Verantwortlichen weniger groß."

 

Merkt man den Druck auch in der Arbeit mit den Spielern, wenn diese nicht einmal an einem Abend auf ein Bier gehen können, ohne dass es am nächsten Tag in der Bild-Zeitung steht?

Die Spieler müssen den Umgang mit den Medien und den Druck auf dem Weg ins Profitum erlernen. Wir haben ja mittlerweile schon so etwas wie den gläsernen Spieler. Spieler erfahren insbesondere durch die neuen digitalen und mobilen Medien eine unglaubliche Transparenz. Der Spieler kann dann schnell das Gefühl bekommen, nichts mehr unentdeckt machen zu können. Sie müssen sehr vorsichtig sein nichts Falsches zu machen oder in ein Fettnäpfchen zu treten. Dadurch kann die Lockerheit verloren gehen. Die proaktive Nutzung von Twitter oder Facebook gibt den Spielern dann wiederum das Gefühl, die Situation und das Bild, das von ihnen durch die Medien gezeichnet wird, ein Stück weit wieder selbst unter Kontrolle zu haben und mitgestalten zu können.

 

Seit einem halben Jahr arbeiten sie schon mit den Spielern - die Mannschaft war in einer schwierigen Phase, es gab viele Verletzte, die Chancenauswertung war ausbaufähig. Wie bemerkt man die Fortschritte, auch unter der Prämisse, dass St. Pölten gerne weiter oben mitgespielt hätte?

St. Pölten hat eine junge Mannschaft, die aber gleichzeitig sehr neugierig ist und schnell lernt. In der Rückrunde hat sie sich bemerkbar weiterentwickelt. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn man die Spiele der Mannschaft unter psychologischer Sicht anschaut. Wir haben dazu eigens eine spezielle Form der Spielanalyse entwickelt. Darin wird deutlich, dass die Mannschaft sich in bestimmten Situationen im Spiel nun anders verhält als noch in der Hinrunde. Sie ist vor allem geduldiger geworden und dadurch auch stabiler und konstanter. Sie hat ihr Methodenrepertoire erweitert. Dabei hat sie mit Martin Scherb einen Trainer mit sehr großer Fachkompetenz und einem sehr guten Gefühl im Umgang mit den Spielern.

 


"Wir haben ja mittlerweile schon so etwas wie den gläsernen Spieler. (...) Sie müssen sehr vorsichtig sein nichts Falsches zu machen oder in ein Fettnäpfchen zu treten. Dadurch kann die Lockerheit verloren gehen."

 

Sind Sie viel am Platz bei den Trainings oder betreiben Sie eher Supervision?

Immer wenn ich in St. Pölten bin, nehme ich auch an allen Trainingseinheiten teil. Manchmal beobachte ich nur, ein anderes Mal nehme ich aktiv teil. Darüber hinaus stehe ich den Spielern und Trainern für Einzelgespräche und Coachings zur Verfügung. Aus unseren Analysen heraus entwickeln wir dann auch möglichst fußballspezifische Übungen, die die Mannschaft quasi nebenbei auch mental schulen.

 

Sie untersuchen also, warum eine Mannschaft reagiert, wie sie reagiert?

Genau. Ein typisches Beispiel: Man hatte eine tolle Trainingswoche. Alles deutet daraufhin, dass man ein gutes Spiel abliefert. Dann kommt der Spieltag und nichts läuft. Da fragt man sich, warum das so ist, denn die Mannschaft spielt ja nicht mit Absicht schlecht. Unsere Aufgabe ist genau das zu verstehen. Wenn man sich dann einmal ein Spiel in seiner Entwicklung genauer ansieht und dazu um die mentale Verfassung weiß, dann kann man verstehen, dass Fußballspiele eine eigene, eben weniger zufällige, Entwicklungslogik haben, die den Trainer mit schöner Regelmäßigkeit in den Wahnsinn treibt. Diese Logik von Mannschaft und Spiel wollen wir verstehen.

 

Zu wie viel Prozent ist die psychische Komponente heutzutage entscheiden?

Ich würde sogar sagen, dass der Kopf absolut spielentscheidend ist, denn fit ist im Grunde genommen jede Mannschaft heutzutage. Entscheidend für den Erfolg ist der kollektive Spirit. Dieser befindet sich ebenfalls in Modulation und Entwicklung.

 

Inwieweit gilt dann aber die Sepp Herberger-Weisheit von den elf Freunden noch in der Post-Bosman-Ära, wenn die Mannschaft überspitzt formuliert jedes halbe Jahr neu zusammen gewürfelt wird?

So ist das Geschäft nun einmal. Aber es müssen nicht alle befreundet sein. Gerade Reibungspunkte sind wichtig für die Entwicklung einer Mannschaft. Entscheidend ist dabei das Handeln im Kollektiv. Gerade bei der EM sieht man, wie Teams scheitern können, wenn einzelne Spieler zu stark an ihrem eigenen Ego festhalten. Das macht das Gefüge sehr fragil. Erfolg haben die Mannschaften, in denen die Spieler auch bereit sind füreinander zu laufen, zu kämpfen und zu spielen. Dann können auch Schwächephasen einzelner Spieler von der Mannschaft aufgefangen werden.

 


"Ich würde sogar sagen, dass der Kopf absolut spielentscheidend ist, denn fit ist im Grunde genommen jede Mannschaft heutzutage."

 

Thema Krisen: Haben Fußballer andere Probleme als andere Menschen? Können die empirischen Daten aus den Lehrbüchern eins zu eins auf Kicker umgelegt werden?

Die Lebenswirklichkeit von Profifußballern ist schon eine andere. Die Spieler verlassen in der Regel bereits früh das Elternhaus, ziehen möglicherweise in eine fremde Stadt. Da muss auch der Verein darauf schauen, dass dieser Schritt nicht dazu führt, dass die Spieler vereinsamen. Das Profigeschäft ist schonungslos. Leistung zählt und Erfolg muss her. Wer sich nicht dem Erfolgsprinzip unterordnet, fällt raus. Diese Spieler müssen aufgefangen werden. Ein weiteres Problem kommt eben dadurch dazu, dass jeder Schritt genau beobachtet wird. Krisen müssen eher alleine durchgestanden werden.

 

Aber ist das so ein großer Unterschied zu normalen Menschen? Im „Grätzl" wird ja auch viel getratscht, bei öffentlichen Personen lesen eben mehr mit. As Grundproblem ist doch dasselbe?

In einem Dorf steht der normale Bürger nicht so im Fokus der Öffentlichkeit. Das ist eine andere Dimension. Außerdem kann man sich im kleinen und unmittelbaren Kreis auch besser wehren. Im Profisport geht das alles über die Medien und da ist es nicht so leicht. Es macht schon ein Unterschied, ob 40 Leute auf einen schauen und ich dann fahre zehn Kilometer weiter und da kennt mich niemand mehr oder 4 Millionen Menschen wissen ständig über mich Bescheid – egal wohin ich fahre. Dazu kommt im Profisport, dass die Konsequenzen des eigenen Handelns für alle sofort sichtbar werden. Wenn ein Angestellter im „normalen" Leben einen Fehler macht, dann spürt er das erst Wochen, Monate oder gar Jahre später. Beim Sport folgt die Konsequenz unmittelbar auf die Handlung. Wenn ich einen Ball schlecht spiele, führt es zum Ballverlust. Ich verschieße einen Elfmeter und verliere dadurch ein großes Finale. Im Sport spitzt sich alles zu. Das macht ihn so spannend.

 

Das heißt, dass Schicksalsschläge aufgrund des möglicherweise mangelnden sozialen Umfelds und des Drucks noch härter sind?

Das kann sein. Wenn ich als Spieler in eine persönliche Leidenszeit gerate, weil beispielsweise ein Familienmitglied stirbt, dann geht der Leistungsbetrieb trotzdem weiter und alle können dabei zuschauen, ob und wie es dem Spieler gelingt mit seinem Leiden umzugehen.

 

Inwieweit greift der Psychologe ein, rät dem Trainer, einen Spieler länger nicht einzusetzen? Wie schaut die konkrete Arbeit bei Schicksalsschlägen, wenn das Team direkt oder indirekt betroffen ist?

In Abstimmung mit dem Spieler kann man dem Trainer raten, einen Spieler besser nicht einzusetzen, da er sich damit gegebenenfalls keinen Gefallen tut. Man kann Empfehlungen geben, aber der Trainer entscheidet. Je nachdem, wie man die Situation einschätzt, kann man beraten. Man sieht aber auch immer wieder ganz deutlich: Aus jeder Krise kann ein Spieler oder auch eine ganze Mannschaft gestärkt hervorgehen. Übersteht eine Mannschaft eine schwierige Leidenszeit, kann das Rückenwind für eine ganze Saison oder gar mehrere darauf folgende geben. Die konkrete Arbeit richtet sich nach den Umständen. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem. Einzel- und Gruppengespräche, Coachings oder speziell auf die Situation abgestimmte Teambuildings.

 

Depression: Nach dem Freitod von Robert Enke outeten sich vermehrt Kicker, dass sie davon betroffen waren oder sind. Wie hoch ist die Prävalenzrate bei Fußballern im Vergleich zur Gesamtgesellschaft?

Zentrales Kennzeichen des Profisportbereiches ist der Leistungsgedanke und damit verbunden auch ein sehr hohes Maß an Druck - meist über einen langen Zeitraum. Das ist nicht leicht auszuhalten und Entspannungsphasen sind daher extrem wichtig. Werden diese nicht ausreichend berücksichtigt, gerät das seelische Gleichgewicht in Schieflage. Man brennt aus oder gerät in seelische Stagnation. Wenn ich seelisch so erschöpft bin, dann ist eine längere Zeit etwas schief gelaufen im Verhältnis von Belastungs- und Entspannungsphasen. Anspannung und Druck gehören zum Leistungssport aber nun einmal dazu. Dieser Druck ist in den letzten Jahren alleine durch die mediale Berichterstattung und die damit verbundene Transparenz dessen, was Spieler auf und neben dem Platz machen, stetig gestiegen. Diesen Druck wird man auch nicht aus dem Leistungssport nehmen können. Entscheidend ist für Spieler und Trainer, wie man mit dem Druck umgeht, um gesund und möglichst erfolgreich zu bleiben.

 


"Zentrales Kennzeichen des Profisportbereiches ist der Leistungsgedanke und damit verbunden auch ein sehr hohes Maß an Druck - meist über einen langen Zeitraum. Das ist nicht leicht auszuhalten und Entspannungsphasen sind daher extrem wichtig."

 

Sind Fußballer abseits des Platzes mitunter anders? Muss sich ein sensibler Spieler verstellen?

Wenn Spieler nicht unmittelbar dem Leistungsdruck ausgesetzt sind wie beispielsweise in der Freizeit sind sie deutlich entspannter. Die Spieler schalten dann ab oder beschäftigen sich mit anderen Dingen. Bei manchen Spielern bekommt man den Eindruck, dass sie außerhalb des Platzes auch ein ganz anderer Mensch werden können – je nachdem, wie hoch der Druck vorher war, der nun abfällt. Wenn ein Spieler sich bewusst oder unbewusst immer wieder oder für einen längeren Zeitraum verstellen muss, so wird es irgendwann schwierig.

 

Manche Spieler, zum Beispiel Cristiano Ronaldo, zeigen Emotionen, die nicht in ein männlich-archaisches Bild passen. Ist das gut oder schlecht?

Das zeigt persönliche Betroffenheit. Wenn er dann weint, dann ist das authentisch. Dann hat er einen sehr menschlichen Umgang mit seiner Situation und der Enttäuschung gefunden. Es hört sich ja fast so an, als könne sich ein Spieler aussuchen, wie er auf dem Platz ist. Ich würde eher sagen, dass es andersherum ist: Auf dem Platz und im Spiel und hier insbesondere in Spielen mit hoher Bedeutung, zeigt sich der wahre Charakter eines Spielers. Für den Fan ist es etwas sehr Wichtiges, Emotionen bei den Spielern zu sehen, denn er ist ja schließlich auch betroffen. Zwar nicht so unmittelbar wie der Spieler selbst, aber doch sehr mittelbar. Der Fan gerät mit einem Spiel in Euphorie oder fällt beispielsweise in eine tiefe Trauer. Die Gefühlsäußerungen der Spieler vergewissern dem Fan, dass es dem Spieler auch so geht und er Anteil daran haben kann.

 


"Auf dem Platz und im Spiel und hier insbesondere in Spielen mit hoher Bedeutung, zeigt sich der wahre Charakter eines Spielers. Für den Fan ist es etwas sehr Wichtiges, Emotionen bei den Spielern zu sehen, denn er ist ja schließlich auch betroffen."

 

Auf Basis dieser Erkenntnisse: Ist ein Sportpsychologe heutzutage unerlässlich?

Ja.

 

Wir danken für das Gespräch!

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