Otto Konrad: 'Unsere Torleute sind relativ komplett - ohne spezielle Stärke oder Schwäche'
ÖFB-Tormanntrainer Otto Konrad stand 90minuten.at Rede und Antwort. Im Interview spricht er über moderne Torhüter, wie Regeln, Taktik und Technik das Torwartspiel in den letzten Jahren veränderten und über Österreichs Schlussmänner. Über die österreichisc
90minuten.at: Was muss ein perfekter Torhüter 2012 können?
Otto Konrad: Er muss heutzutage sehr viele körperliche Fähigkeiten mitbringen. Sei das Schnellkraft, Reaktion oder Routine. Letztere ist bei einem Spitzentorhüter ein ganz wichtiger Faktor. Sieht man sich die momentanen Toptorhüter an, so sind die eher ruhig. Ein Iker Casillas, ein Petr Cech oder ein Gianluigi Buffon sind ruhig und können aber auch in den entscheidenden Phasen auszucken. Wie kannte man Oliver Kahn? Extrem temperamentvoll, fast als wahnsinnig abgestempelt. Diese Typen fehlen oben an der Spitze. Vielleicht ist das ein Teil einer Entwicklung.
Der heutige Tormann muss das System verstehen und sich ins Spiel integrieren. Es ist nicht mehr möglich, so zu dirigieren, wie man es gerne hätte.
Welche Entwicklung meinen Sie?
Seinerzeit war es so, dass man sagte, der Tormann wäre der Abwehrdirigent. Mit der Viererkette und der Raumdeckung hat er nun weniger Möglichkeiten, seine Vorderleute zu informieren. Heute geht alles so schnell, dass die Abwehr vor dem Tormann diese Sachen selbst erledigen muss.
Das heißt, die Abwehr muss sich mehr auf die eintrainierten Automatismen verlassen?
Der heutige Tormann muss das System verstehen und sich ins Spiel integrieren. Es ist nicht mehr möglich, so zu dirigieren, wie man es gerne hätte. Das System funktioniert nur, wenn alle mittun. Vorher war es so, dass der Tormann den Anderen sagte: „Pass auf! Hinter dir! Geh mit ihm mit!" Das ist heute nicht mehr der Fall. Klar, je näher zum Tor, desto näher am Mann. Bei Standards merkt man, dass viele Mannschaften fast nur mehr Raumdeckung spielen. Es gibt aber wieder die Entwicklung, eine kombinierte Raum-/Manndeckung zu machen. Bei der Raumdeckung ist es aber so, dass man kurzfristig den Mann deckt, der in den Raum kommt. Früher hat das der Tormann gemacht. Das geht heute nicht mehr.
Heute spricht man aufgrund des Offensivspiels des Goalies vom Tormann als neuem Libero.
Es gab die Regeländerung zum Torraub. Davor hat der Tormann einen Spieler, der aufs Tor zugelaufen ist, festgehalten. Dann gab es eine gelbe Karte und das war es. Nun ist das mit Risiko verbunden, weil wenn ich aus dem Strafraum raus gehe und zu spät komme, fliege ich runter und das ganze Spiel ist beim Teufel. Darum muss man sich fragen, ob man das Risiko eingeht, den Tormann so weit vorne spielen zu lassen.
Warum wird dann Manuel Neuers Spiel so gehypt?
Man muss sich die Frage stellen, gegen wen die Bayern immer spielen. International sehe ich ihn defensiv wie viele andere auch. Eines ist aber klar: Das Offensivspiel hat sich auch aufgrund einer Regeländerung verfeinert (Anm.: bis 1997 durfte der Tormann nur vier Schritte mit dem Ball laufen, nun gelten sechs Sekunden). Nun kann er den Ball runterfangen und in den sechs Sekunden im gesamten Sechzehner laufen. Das ist ein Vorteil, wenn man den Ball schnell in die Offensive bringen kann. Das wird immer mehr.
Die Schüsse sind um fünfzehn bis zwanzig Prozent schärfer geworden. Das hat mit der Balltechnologie und der Schusstechnik zu tun.
Und werden wir viele Torhüter sehen, die weit aufrücken und in der Offensive Überzahlsituationen erzeugen?
Einer der Ersten, der das so gemacht hat, war Edwin van der Sar bei Ajax Amsterdam. Er war in den Spielaufbau eingebunden und als Anspielstation für die Viererkette da. Van der Sar hat auch mit links und rechts sehr genau weite Bälle schlagen können. Dass man den Tormann so weit mitspielen lässt, ist eine Entwicklung der letzten Jahre und sicher positiv. Aber das muss auch demensprechend trainiert werden. Die Abwehrreihen und das Mittelfeld müssen mitspielen. Wie geht die Mannschaft mit Pressing um? Ist der Tormann außerhalb des Strafraums und ist eine Anspielstation? Wenn das praktiziert wird, ist das optimal. So hat die angreifende Mannschaft eine zusätzliche Position, die attackiert werden muss. Das ist eine positive Entwicklung und wird noch viel zu wenig gemacht.
Ein weiteres Thema bezüglich Neuerungen: Wie sehr verändern die neuen Bälle wirklich das Spiel? Manche Torhüter ziehen das Flattern gern als Ausrede heran. Stimmt dieser Eindruck?
Es gibt von der UEFA eine Studie, um wie viel schneller heutzutage geschossen wird und wie die Bälle fliegen. Die Schüsse sind um fünfzehn bis zwanzig Prozent schärfer geworden. Das hat mit der Balltechnologie und der Schusstechnik zu tun. Es gab schon einen Roberto Carlos, da sind die Bälle geflogen, als gebe es kein Morgen. Heute gibt es viele Spieler wie Ronaldo oder Arnautovic, da fragt man sich, wie der Ball fliegt. Das ist eine Kombination aus dem Ball und der Schussstellung. Physikalisch gibt es da hochinteressante Erklärungen. Seit längerer Zeit gibt es ja Kunststoffbälle. Die fliegen anders als ein Lederball. Die Temperatur hat auch einen unglaublichen Einfluss. Ein Kunststoffball hat bei null Grad andere Eigenschaften als bei dreißig. Die Torhüter passen sich aber dem Ball an. Es gab schon bei der letzten EM nicht mehr so viele fürchterliche Tore mit „dem Flatterball". Es kommt immer wieder vor, aber es war relativ entspannt.
Die tatsächlichen Veränderungen halten sich also in Grenzen?
Es ist deshalb schwieriger, weil es mehr unterschiedliche Modelle gibt. Sie ändern sich auch schnell – zu jedem Anlass gibt es ein neues. Das sagen auch die Hersteller. Die heutige Generation kann sich leichter anpassen. Die wesentliche Veränderung ist die Schusstechnik.
Und wie lang braucht ein durchschnittlicher Goalie, um sich auf einen anderen Ball einzustellen? Die eine Woche in Favoriten, die nächste am Tivoli.
Meine Meinung: Wenn man eine Woche mit einem Ball trainiert, hat man ihn so weit unter Kontrolle, dass man mit ihm leben kann. Wenn man weiß, dass es auswärts andere Bälle gibt, versucht man mit den Bällen zu trainieren, mit denen man auch spielen wird. Das ist im Nationalteam so. Bei den Vereinen ist das vielleicht nicht so möglich.
Unsere Torleute sind relativ komplett. Ich kann nicht sagen, dass einer eine spezielle Stärke oder Schwäche hat.
Kommen wir zu den heimischen Schlussmännern: Was zeichnet die österreichischen Keeper von Gratzei bis Königshofer aus?
Man kann sie nicht über einen Kamm scheren. Es gibt Torleute, die haben etwas Spezielles. Einer wirft weit aus, ein anderer ist auf der Linie stark, einer spielt hervorragend mit. Unsere Torleute sind relativ komplett. Ich kann nicht sagen, dass einer eine spezielle Stärke oder Schwäche hat. Was mich sehr positiv stimmt ist, dass sie noch sehr viel Potential haben. Routine und Erfahrung machen schon viel aus.
In Deutschland vertraut man oft auf junge Keeper. Wie viel Erfahrung braucht ein Tormann?
Es gibt Talente am Feld, die irgendwann nicht weiter kommen. Diese Torhüter haben zwar Spielpraxis, aber der Stern geht nicht auf. Vielleicht kriegt er nie die Möglichkeit, tragende Rollen zu spielen. Bei Torhütern gibt es immer das Thema, ob er es schafft, über einen längeren Zeitraum gute Leistungen zu bringen. Er hält oder eben nicht.
Also ist die Bewertung eines Tormannes einfacher?
Ein Feldspieler hatte mal einen schlechten Tag, man hat ihn kaum gesehen, er hat sich nicht angeboten – beim Tormann ist recht schnell zu bilanzieren. Ja, er hat gut gehalten, war auffällig, hat kaum Fehler gemacht, hat ein Spiel gewonnen. Ein Feldspieler kann unauffällig gewesen sein und die taktischen Vorgaben hervorragend umgesetzt haben. Bei einem Tormann schaut man, wie viele Punkte er gerettet hat. Es gibt Torleute, die spielen sensationelle Partien, retten Spiele und dann hauen sie daneben. Wenn man bei einem Verein spielt, bei dem man viel zu tun hat, man teilweise sensationell hält, zehn, fünfzehn Mal gut agiert, sind dann trotzdem Hackler drinnen. Es gibt Torleute, die können nicht einmal etwas dafür, dass sie einen Punkt retten. Sie stehen falsch, aber der Stürmer macht auch das Falsche. Dann sagt man „Der hat super gehalten!"
Also ist eine sehr genaue Analyse vonnöten?
Ja, und über einen längeren Zeitraum! Man schaut sich Spiele an, holt Informationen ein. Ganz ehrlich: Die Zeitung schreibt von einer „sensationellen Leistung", aber das wird oft auf ein oder zwei Situationen herunter gebrochen. Unterm Strich kann es aber sein, dass er in anderen Situationen viel Glück hatte. Es ist wichtig, sich Tormänner oft anzuschauen und ein Bild zu machen. Da kommen viele weitere Dinge dazu. Wie geht er nach einem Fehler damit um? Bei manchen ist die Partie g'rennt, andere spielen aktiv weiter. Das zeigt den Charakter und das Potential.
Nehmen Torhüter durch ihre Ausnahmerolle die Atmosphäre anders wahr?
Da gibt es verschiedene Typen. Dem einen ist es wurscht, dem anderen nicht. Der kriegt es mit, wenn er beschimpft wird. International kommt aber noch mehr dazu. Da sind mehr Kameras, Vorberichterstattung, man misst sich mit einem anderen Team, man kennt die Spieler kaum. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich vier Mal gegen eine Mannschaft spiele oder gegen eine, bei der mir der Trainer erst erklären muss, wer wer ist.
Als ich in den 80ern angefangen habe, gehörte der 16er dem Tormann. Zehn, fünfzehn Jahre später hieß es bis zum Elfer. Heute muss der Fünfer meiner sein.
Die Strafraumbeherrschung gilt als die Königsdisziplin. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die Österreicher das schlechter beherrschen als andere Keeper.
Ich glaube, dass das nicht extremer ist als in anderen Ländern. Wann geh ich denn aktiv auf eine Flanke? Da sind wir wieder bei Raum-/Manndeckung und was ich dem Tormann zutraue. Wenn der rauskommt, muss er auch den Platz haben. Wenn da schon ein Spieler steht, behindert er den Tormann. Als ich in den 80ern angefangen habe, gehörte der 16er dem Tormann. Zehn, fünfzehn Jahre später hieß es bis zum Elfer. Heute muss der Fünfer meiner sein. Die Tormänner sind nicht schlechter oder haben Angst, das Spiel ist schneller geworden.
Gibt das Trainerteam vor, ob man rauskommt?
Ich würde diese Empfehlung nie abgeben. „Bleib lieber im Tor drinnen", wird keiner sagen.
Almer hat eines: Er hat Routine, nicht zu spielen und dann gute Leistungen zu bringen.
Wie lange kann der Nationaltorhüter beim Verein auf der Bank sitzen?
Nachdem es die Vorweihnachtszeit ist: Mit diesem Thema beschäftigen wir uns dann, wenn es aktuell wird. Man darf eines nicht vergessen: Robert Almer ist ein ganz eigener Typ, wie ich ihn sonst noch nie kennen gelernt habe. Ich kenn ihn von der U21. Er hat schon eindrucksvoll bewiesen, dass er mit dieser Situation umgehen kann. Er hat eines: Er hat Routine, nicht zu spielen und dann gute Leistungen zu bringen.
Würden Sie eher einen schwächeren Goalie nehmen, der regelmäßig spielt oder einen wie Robert Almer?
Da muss man kein Trainer sein, die Frage kann sich jeder selbst beantworten. Man nimmt den, der einen nicht enttäuscht hat.
Auch wenn er lange nur zweite Wahl ist?
Robert kann sich immer verletzen und dann jemanden zu nehmen, der erst ein Länderspiel absolviert hat, wäre auch schlecht. Darum hat jetzt Heinz gespielt. Wir brauchen einige, denen wir vertrauen. Der Teamchef sagt ja auch, dass wir eine Gruppe gefunden haben, der wir vertrauen. Man kann ja nicht sagen, dass Einer einen Fehler macht und dann kommt der Nächste. Es geht darum, als Team aufzutreten.
Wir danken für das Gespräch!
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