Am 14. Juli steigt im Berliner Olympiastadion das EM-Finale. Die Heimstätte von Hertha BSC Berlin wurde anlässlich der Endrunde nochmals einer Frischzellenkur unterzogen, welche die fast 100 Jahre alte Arena in neuem Glanz erstrahlen lässt.
So glanzvoll wie die zahlreichen denkwürdigen Sportereignisse im Olympiastadion ist dessen Geschichte aber nur zum Teil. Der Koloss am Rande des Berliner Westends blickt auf eine Historie, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Kaum ein Stadion in Europa hat eine so wechselvolle Vergangenheit wie dieses. Wir haben uns vor Ort auf Spurensuche begeben.
Gigantomanie in Stein gegossen
Beim Betreten des Stadions eröffnet sich eine beeindruckende Kulisse, sogar im leeren Zustand zieht einen das weite Rund sofort in seinen Bann. Es ist ein einzigartiger Ort, der eine ganz schwermütig-ikonische Magie ausstrahlt.
Der Blick schweift über die Ränge, bleibt aber unvermittelt am imposanten Marathontor (der Öffnung auf der Westseite des Stadions) und der dort thronenden Feuerschale hängen, die sogleich auch die ambivalente Historie des Stadions zum Ausdruck bringt.
Wer schon einmal auf dem Vorplatz des Stadions stand, dem offenbart sich die Gigantomanie, welche zu Zeiten des Baus vorherrschte. Das Portal am Haupteingang aus den beiden 35 Meter hohen Türmen, zwischen denen die Olympischen Ringe aufgehängt sind, begrüßt einen bereits aus hunderten Metern eindrucksstark - und dies ist von den Erbauern auch so gewollt.
Die heute 74.245 Personen fassende Arena liegt auf einer Achse mit der Olympischen Straße, dem 400 Meter langen Olympischen Platz sowie dem hinter dem Stadion befindlichen Maifeld, welches vom 77 Metern hohen Glockenturm begrenzt wird und ist dank des Marathon-Tores durchgehend einsehbar. Dies sollte die "Überlegenheit der deutschen Rasse und Nation" symbolisieren, wie es in zeitgenössischen Schriften heißt.
Womit wir auch bei den Erbauern des Stadions angelangt sind. Errichtet wurde dieses vom NS-Regime, die Aura jener Epoche ist bis heute zu spüren. Auch, weil viele Einzelheiten an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern, dazu aber später mehr.
Olympische Spiele als diktatorische Chefsache
Erbaut wurde der mit Muschelkalk eingekleidete Koloss anlässlich der Olympischen Spiele 1936, für die Deutschland im Jahr 1931 den Zuschlag erhielt. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Jänner 1933 machte der Diktator das Vorhaben zur Chefsache.
Geplant und ausgeführt wurde der Bau federführend vom Architekten Werner March, unterstützt von seinem Bruder Walter und beraten von Hitlers "Lieblingsarchitekt" Albert Speer. Auch Hitler selbst mischte sich mehrmals in die Planungen ein, von ihm soll die Idee, die Außenfassade mit Muschelkalk zu verkleiden, stammen.
Das Stadion selbst ist eingebettet in den Olympia-Park, welcher eine Gesamtfläche von 130 Hektar umfasst. Dieser hörte in der NS-Zeit auf den Namen "Reichssportfeld" und war schon vor der Jahrhundertwende Schauplatz sportlicher Großereignisse.
Denn ursprünglich befand sich auf dem Areal die "Grunewald-Rennbahn", auf der Pferderennen stattfanden und wo sich die Berliner "Hautevolee" tummelte. Schon bei deren Bau berücksichtigte man in deren Mitte eine ausgeschachtete Grube, in die anlässlich der Olympischen Spiele 1916 das "Deutsche Stadion" für 30.000 Zuschauer gebaut wurde. Nur sollten diese niemals stattfinden. Europa stürzte sich in den Ersten Weltkrieg, das Stadion wurde im Juli 1914 geschlossen und diente in Folge als Lazarett.
Nach Kriegsende schmiedete man erneut den Plan, Olympia nach Deutschland zu holen. Das Stadion sollte auf 65.000 Plätze erweitert werden, die Weltwirtschaftskrise in den 1920er setze diesen Träumen aber ein jähes Ende.
Abriss nach nicht einmal 20 Jahren
Vom "Deutschen Stadion" ist heute nichts mehr zu sehen, weil es in den March’schen Plänen für Olympia 1936 keinen Platz hatte. Es wurde nach nicht einmal 20 Jahren der Nutzung für den Bau des Olympiastadions gänzlich abgerissen.
Spuren aus dieser Zeit findet man aber doch noch: Das auf dem Areal befindliche Schwimmstadion existiert in veränderter Form bis heute an selber Stelle. Vor allem aber zeugt die "Podbielski-Eiche" nebst des Haupteingangs von der Zeit der Monarchie. Sie ist das älteste Objekt auf dem gesamten Areal und stand schon vor Errichtung der Grunewald-Rennbahn dort, ihr Alter wird auf über 200 Jahre geschätzt.
Am Bau des Olympiastadions waren zeitweilig mehr als 500 Firmen und über 2.600 Personen beteiligt. Ursprünglich sollten es nur rund die Hälfte sein, doch man hinkte dem Bauplan teils enorm hinterher. Das lag auch daran, dass die Bau-Unternehmen verpflichtet waren, "nur wirtschaftsfriedliche Arbeiter deutscher Staatsangehörigkeit und arischer Abstammung" zu beschäftigen. Am Ende stiegen die Gesamtkosten für das Projekt auf schätzungsweise 27 Millionen Mark. Inflationsbereinigt wäre dies heute eine Summe von rund 220 Millionen Euro.
Aufklären statt Zudecken
Am 1. August 1936 eröffnete Hitler von seiner "Führerloge" aus die Olympischen Spiele. Obwohl die Kriegsvorbereitungen bereits in vollem Gange waren, errichtete das Regime eine Fassade und versuchte so, Deutschland als friedvoll und weltoffen darzustellen. In dieser Zeit hatte der Machtappart auch die strikte Anweisung, antisemitische Übergriffe, die davor an der Tagesordnung waren, tunlichst zu unterlassen.
Die Schatten des Nationalsozialismus trägt das Stadion bis heute mit sich, wozu man sich allerdings ganz bewusst entschied. Ein Grund ist schlichtweg, dass eine Veränderung der NS-typischen Stadion-Architektur baulich unmöglich ist, man beließ aber auch zahlreiche andere zeitgenössische Merkmale bestehen, denn das Stadion soll stets ein Ort der Erinnerung bleiben.
Die Schale, in der 1936 das Olympische Feuer entzündet wurde, die Fackelhalter im unteren Umgang, die Tore bei den Zugängen zu den Tribünen sowie diverse Geländer und Stahlkonstruktionen sind noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten, ebenso wie die gravierten Siegertafeln am Marathontor. Auch die Glocke aus dem zu Kriegsende ausgebrannten und später neu errichteten Glockenturm ist bis heute auf dem Gelände ausgestellt.
Beim Besuch von uns wird deutlich, dass man sich hier verantwortungsvoll dem Motto "Aufklären statt Zudecken" verschrieben hat, wie es in der Stadt Berlin generell der Fall ist. Zahlreiche Infotafeln tun das ihrige, zudem werden entsprechende Führungen angeboten.
Als Rapid deutscher Meister wurde
Auch eine österreichische Mannschaft steht in enger Verbindung zum Olympiastadion. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im Jahr 1938 wurden in Folge sogenannte "Großdeutsche Meisterschaften" ausgetragen.
Als Meister der "Sportbereichsklasse Ostmark" hatte sich der SK Rapid 1941 dafür qualifiziert und stieß überraschend bis ins Finale gegen Schalke 04 vor, welches am 22. Juni jenes Jahres vor knapp 100.000 Besuchern im Olympiastadion ausgetragen wurde. Nach einem 0:3-Rückstand drehte Rapid das Spiel vor allem dank dreier Treffer von Franz "Bimbo" Binder noch zu einem 4:3-Sieg.
Auf der Homepage des Grün-Weißen ist bis heute von einem der "größten sportlichen Triumphe unserer ruhmreichen Vereinshistorie" zu lesen. Vor Ort tut man sich aber schwer, diese Argumentation nachzuvollziehen, weil sie den historischen Kontext außen vor lässt. Denn es ist ein Triumph, der auch einen bitteren und wenig ruhmreichen Beigeschmack aufgrund der äußeren Umstände hat. Am selben Tag entfesselte NS-Deutschland den Ost-Feldzug gegen die Sowjetunion. In den nachfolgenden Jahren wurde das Olympia-Gelände von Kampfhandlungen stark beschädigt.
Vor Ort findet man heute Bilder des Stadions unmittelbar nach Kriegsende, mit herabgefallenen Mauerteilen und ausgebrannten Räumlichkeiten. Wir stehen also inmitten des Stadions und spüren dank der bildhaften Beschreibungen die Aura des Krieges, wo zum Zeitpunkt des Rapid-Spiels schon Millionen von Gefallenen zu beklagen waren. Gleichzeitig wird uns aber auch nachvollziehbar, dass es beeindruckend gewesen sein muss, dieses Spiel vor Ort erlebt zu haben. Für die Menschen war es zudem ein dankbarer Ausgleich zum Alltag im Krieg.
Schmelings letzter Fight
Nach dem Krieg beanspruchten zunächst die Besatzungsmächte das Gelände, alsbald begann man mit dem Wiederaufbau und es wurden aber auch wieder Sportereignisse dort ausgetragen. Das erste große Highlight ging am 31. Oktober 1948 über die Bühne: Auf der "Freilichttribüne" unweit des Stadions (heute "Waldbühne") bestritt an jenem Tag Max Schmeling seinen letzten Boxkampf. Nach und nach wurden Teile des Geländes an die Deutschen Behörden zurückgegeben, im Jahr 1949 auch das Olympiastadion.
In den 50ern wurde die "Führerloge" gekürzt, um jenen Bereich, in dem Adolf Hitler seinen Platz hatte, zu entfernen. Die vorgelagerte Ehrenloge existiert in dieser Form aber bis heute und ganz unwillkürlich erwischt man sich dabei, dass einem die in unzähligen Dokus gezeigten Bilder des "Führers" und seiner Schergen ebendort stehend vor die Augen flimmern.
Ein bröckelndes Denkmal
Auch Fußball wurde in den folgenden Jahren wieder gespielt: Seit der Bundesligagründung 1963 trägt Hertha BSC seine Spiele im Olympiastadion aus.
Obwohl es damals Deutschlands größte Arena war, wurde erst im Jahr 1966 erstmals eine Flutlichtanlage errichtet. Eine erste Teilüberdachung für rund 26.000 Plätze wurde anlässlich der WM 1974 installiert.
Über die Jahre nagte aber der Zahn der Zeit am architektonischen Monument, Ende der 80er-Jahre wurden die Mängel immer bedenklicher. Kurz nach dem Mauerfall begann man bereits Pläne für eine Olympiabewerbung zu schmieden, um eine Sanierung und Adaptierung in die Wege leiten zu können. In den Folgejahren bewarb man sich schließlich für Olympia 2000, scheiterte aber schon im ersten Wahlgang klar.
Das machte die Lage um die marode Bausubstanz immer prekärer, denn die Arena bröckelte vor sich hin. Dies ging so weit, dass die Ränge teilweise mit Stahlträgern gestützt werden mussten. Die Sanierungskosten wurden damals mit 600 Millionen Mark (etwas mehr als 300 Millionen Euro) beziffert. Doch der Bund als Eigentümer und das Land als Nutzer fanden keinen Konsens.
Die Unzufriedenheit stieg, es bildete sich Widerstand. Die Stadiongegner, allen voran der Berliner Verbandspräsident Otto Höhne, sahen in dem Bau keine Zukunft und forderten die Stilllegung.
Zum Rettungsanker für das marode Monument wurde der Zuschlag für die WM 2006 im Juli 2000. Bund, Land und DFB setzten sich an einen Tisch und arbeiteten ein Finanzierungskonzept für die dringend nötige Kernsanierung aus, die am Ende rund 250 Millionen Euro kosten sollte.
Die Tribünenüberdachung wurde dabei beidseitig bis zum Marathontor geschlossen, eine moderne Flutlichtanlage eingebaut sowie die markante blaue Tartanbahn verlegt.
Das Flutlicht, später als "Feuerring" bekannt, setze neue Maßstäbe und ließ keine Schatten oder Halbschatten mehr zu. Die Sanierung dauerte vier Jahre und fand bei laufendem Spielbetrieb statt, 70 Prozent der historischen Bausubstanz blieben erhalten.
Lehmann und sein Spickzettel
Bei der WM 2006 fanden vier Gruppenspiele, ein Viertelfinalspiel und das Finalspiel im Olympiastadion statt. Besonders in Erinnerung blieb den DFB-Fans freilich zweiteres, als Deutschland Argentinien im Elfmeterschießen besiegte. Zum Helden wurde Goalie Jens Lehmann mit seinem ikonischen Spickzettel, auf dem ihm Torwarttrainer Andreas Köpke alle möglichen Schützen der Argentinier samt deren Präferenzen notiert hatte.
Auch ein Highlight aus der jüngeren Geschichte ist dank Info-Tafeln auf dem Gelände gut nachzuvollziehen. Im Jahr 2015 fanden binnen einer Woche gleich zwei Schlagerspiele im Olympiastadion statt.
Am 30. Mai ging zum 30. Mal das DFB-Pokalfinale im Olympiastadion über die Bühne, der VfL Wolfsburg feierte mit einem 3:1 gegen Borussia Dortmund seinen ersten Pokal-Triumph.
Nur eine Woche später, am 6. Juni, fand das Champions-League-Finale in Berlin statt. Der FC Barcelona bezwang dabei Juventus Turin ebenso mit 3:1. Im Vorjahr absolvierte Union Berlin mit Christopher Trimmel seine Champions-League-Spiele dort, ein Highlight war jenes am 12. Dezember gegen den späteren Champion Real Madrid, der beim 3:2-Sieg ordentlich zu kämpfen hatte.
Der Bernstein-Schock
Zuletzt waren Sternstunden aber eher rar, mit EM-Finale steht aber die nächste unmittelbar bevor. Ob derlei weitere in Zukunft von Hauptmieter Hertha BSC dargeboten werden, ist indes fraglich. Der Klub plant seine langfristige Zukunft nicht im Olympiastadion und nimmt den Bau einer eigenen Arena ins Visier. Wie es für das Olympiastadion dann weitergeht, ist offen, die Verantwortlichen wünschen sich schon länger, dass daraus das DFB-Nationalstadion wird.
Bei unserem Besuch ist die "Alte Dame" jedoch nach wie vor omnipräsent. Dies beginnt schon, bevor man das Innen-Areal betritt. Denn direkt vor dem Haupteingang sticht die Gedenkstätte für den zu Jahresbeginn überraschend verstorbenen Hertha-Präsidenten Kay Bernstein ins Auge. Unzählige Schals, Bilder und Kerzen erinnern an den viel zu früh verstorbenen Ex-Ultra, der es bis an die Klubspitze schaffte.
Ein kalter Schauer läuft uns über den Rücken, als wir die Abschieds-Botschaften an Bernstein lesen. "Dank dir ist der Himmel blau-weiß", schreibt ein Fan. Und wieder hat sie uns eingefangen, die Aura dieses einzigartigen Ortes.