Die Krux mit der Chancenauswertung

Chancenauswertung kann man nicht trainieren, sagt Alfred Tatar. Stimmt nicht, sagt Toni Pfeffer. Kann man Chancenauswertung trainieren? Wenn ja, wie? Und was heißt es, wenn ein Team viele Chancen hat, aber nicht oft trifft? Von Taktik-Experte Momo Akhondi

 

Marcel Koller meinte einst bei einer Pressekonferenz mit einem Schmunzeln aber inhaltlich bestimmt, man muss den Spielern im tagtäglichen Training „auf die Finger hauen“ um sie darin zu verbessern, Roger Schmidts Salzburger hatten besonders oft damit zu kämpfen. Die Rede ist von der Chancenauswertung.

 

Nun hat Alfred Tatar am Wochenende auf Sky bei diesem Dauerbrenner nachgelegt: „Man kann nicht an der Chancenverwertung arbeiten im Training“ . Eine Aussage die wohl durchaus ihre Berechtigung hat, doch die dazugehörige Erklärung sorgte für eine kurze kontroverse Diskussion in der Sky-Expertenrunde mit Toni Pfeffer.

 


Kann man Chancenverwertung trainieren?

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Posted by Sky Sport Austria on Montag, 7. März 2016

 

„Das Training ist eine Situation, die völlig unterschiedlich ist zu einer Spielsituation, zur Spielspezifik.“ Doch ist es das wirklich?

 

Zunächst einmal sei gesagt, dass die Chancenauswertung generell zu einseitig gesehen wird. Wenn ein Stürmer seine Chance nicht macht, ist meistens der Spieler individuell zur Rechenschaft zu ziehen. Das entspricht zwar nicht unbedingt der Wahrheit, doch dazu später mehr.

 

In der modernen Trainingsmethodik wird seit geraumer Zeit das ganzheitliche Training gefordert und gefördert. Vertreter wie beispielsweise Thomas Tuchel meinen, es soll „immer alles trainiert werden“. Aspekte wie Ausdauer, Technik, Individual-, Gruppen- oder Mannschaftstaktik können nicht isoliert betrachtet und trainiert werden.

 

Das hat vor allem zwei Gründe: einerseits wird das isolierte Training von verschiedenen Aspekten des Spieles dem Sport schlichtweg nicht gerecht. Man kann die Technik eines Spielers nicht isoliert trainieren, wenn dieser sie dann am Spieltag unter Gegner- und Zeitdruck nicht abrufen kann.

 

Andererseits hat man schlichtweg nicht die nötige Zeit, jeden Aspekt einzeln zu trainieren ohne insgesamt die Mannschaft „überzutrainieren“. Vor allem bei „englischen“ Wochen mit Spielen im 3-Tages-Rhythmus, führt zu viel Training schnell zu einer Überbelastung, welche ebenso rasch zu Verletzungen führt. Dass eine Mannschaft wie Altach zum Beispiel zurzeit mit acht Verletzten zu kämpfen hat, ließe sich vermutlich bei korrekter Trainingsplanung verhindern.

 

Man hat also nur begrenzt Zeit zur Verfügung und möchte so viele Aspekte wie nur möglich miteinander kombinieren. Zwangsläufig muss man also versuchen, einzelne Spielsituationen im Training nachzustellen und in sogenannten „Spielformen“ zu simulieren. Man versucht hier keineswegs das Spiel vom Wochenende „zu kopieren“, versucht aber möglichst spielnah mehrere Spielaspekte miteinander zu kombinieren.

 

Spielnah heißt auch, dass es wie am Spieltag Gegner-, Zeit- und Raumdruck geben muss. Den Spielern wird nichts „vorenthalten“, was sie gegen den kommenden Gegner erwarten wird. Um Alfred Tatars Zitat wiederum aufzugreifen: Man versucht sehr wohl die Spielsituation und Spielspezifik im Training nachzustellen. Wie gut das gelingt, hängt auch von der Trainingsplanung des Trainers ab.

 


Ein gutes Beispiel hierfür ist der italienische Top-Trainer Maurizio Sarri – derzeit Tabellenzweiter mit dem SSC Napoli, der eine typische Trainingswoche zwischen zwei Bewerbsspielen in seiner Trainerarbeit beschrieben hat, wie Taktik-Analyst Alex Belinger hier beschrieben hat.

 

Abhängig von der Analyse des eigenen Spiels und der des kommenden Gegners, wird die Mannschaft im Training in jene Situationen gesteckt, welche am Spieltag so vorkommen dürften bzw. beim letzten Spiel nur mangelhaft umgesetzt wurden. Hier kann man sehr wohl durch gezieltes Coaching die Effizienz der Spielformen und damit die Erfolgswahrscheinlichkeit für den Spieltag steuern. Womit wir zur Aussage von Teamchef Koller zurückkommen: Man muss den Spielern im tagtäglichen Training „auf die Finger hauen“.

 

Dass man jedoch am eigenen Trainingsplatz in gewohnter Umgebung, im Gegensatz zu einem Auswärtsspiel mit langer Anreise eine andere psychologische Situation hat, dürfte unbestritten sein. Diesbezüglich könnte man also einen zusätzlichen Faktor hinzurechnen, der in punkto Chancenverwertung wohl eine wichtigere Rolle einnimmt als in anderen Aspekten des Spiels: die psychische Verfassung der Mannschaft.

 


Hier gibt es in der Trainingsmethodik einen anderen, sehr simplen Ansatz. Man spielt Situationen so extrem vereinfacht ab, dass es fast unmöglich wird, diese im Spiel so wiederzufinden. So wird versucht, das Selbstvertrauen der Stürmer und der Mannschaft „künstlich“ zu erhöhen. Zum Beispiel lässt man den Stürmer alleine auf den Tormann zulaufen und abschließen.

 

Kommt diese Situation im Spiel oft vor? Werden ihm die Abläufe bei einem Rumgestocher im gegnerischen Strafraum helfen, „cool“ zu bleiben und das Tor zu treffen? Nein, doch es hilft ihm sehr wohl dabei sich mental auf das Spiel vorzubereiten.

 

Die Aussage von Tatar hat also durchaus seine Berechtigung. Man wird es nie schaffen, das Spiel und seine einzelnen Situationen zu „kopieren“. Man versucht aber sehr wohl, die Spielsituation und Spielspezifik zu simulieren, um so nah wie möglich dran zu sein und den Zufall so weit wie möglich zu reduzieren. Um alle Aspekte der Sportart abzudecken, greift man hierbei auf unterschiedlichste Mittel zurück, um am Spieltag maximalen Erfolg und Effizienz zu haben. Man stößt als Trainer auch schnell auf seine Grenzen, doch es stimmt wohl nicht, dass im Training nicht an der Chancenauswertung gearbeitet werden kann, wie vom Sky-Experten behauptet.

 

>>> Morgen könnt ihr Teil 2 der Analyse lesen. Dabei geht es um die Frage: Was sagt die Anzahl der Torschüsse überhaupt aus? Ist sie ein Indikator für ein gutes Spiel der eigenen Mannschaft?